Aus der FTD vom 12.11.2002 www.ftd.de/muenchau Kolumne: Stunde der Wahrheit Von Wolfgang Münchau
An diesem Freitag stehen die Abgeordneten der Grünen vor einer nur scheinbar schweren Wahl: Entweder sie folgen ihrem Gewissen, stimmen gegen die Erhöhung der Rentenbeiträge von 19,1 auf 19,5 Prozent und riskieren damit den Bruch der Koalition. Oder sie geben ihren Anspruch auf, eine Reformpartei zu sein.
Dieser Konflikt ist nur scheinbar, denn weder Bundeskanzler Gerhard Schröder noch die SPD werden diese Koalition scheitern lassen. Die Grünen sind in einer viel stärkeren Position, als sie glauben. Über die ökonomischen Konsequenzen dieser Beitragserhöhung braucht man nicht lange zu diskutieren. Wer in einem wirtschaftlichen Abschwung Abgaben und Steuern erhöht, begeht den schwersten aller Fehler in der Wirtschaftspolitik. Wenn die Koalition zustimmt, wird der Aufschwung länger auf sich warten lassen, die Finanzierungslücken beim Bund und bei den Sozialkassen werden im nächsten Jahr noch größer, und die Beiträge steigen erneut.
Die Grünen sollten sich nicht mit der Etablierung einer Kommission zur Reform der sozialen Sicherungssysteme zufrieden geben - auch nicht, wenn ein konkreter Auftrag für dieses Gremium zur Senkung der Lohnnebenkosten schriftlich festgelegt wird. Wer Abgaben kurzfristig erhöht, wird sie nicht langfristig senken. Der erste Schritt für eine langfristige Senkung der Lohnnebenkosten muss sein, eine kurzfristige Erhöhung zu vermeiden. Was die SPD anbietet, ist daher kein Kompromiss, nicht einmal ein fauler Kompromiss. Es ist das absehbare Ende aller Hoffnungen auf eine durchschlagende Reform. Deren Höhe - 41 Prozent der gesamten Lohnkosten - ist einer der Hauptursachen für die strukturelle Arbeitslosigkeit. Die Regierung hat schließlich auch die Vorschläge der Hartz-Kommission derart verwässert, dass kaum noch etwas davon übrig geblieben ist.
Glaubwürdigkeit in Gefahr
Wenn die Grünen den Beitragserhöhungen zustimmen, tragen sie ebenso wie die SPD die volle Verantwortung für die wirtschaftlichen Schäden. Der alte Trick, sich als Pro-Reformpartei in einer reformfeindlichen Regierung zu vermarkten, hat jetzt sein Ende gefunden.
Wenn die Grünen jetzt wieder einknicken, verlieren sie ihr wertvollstes Gut, ihre Glaubwürdigkeit. Dazu braucht man Mut, auch den Mut, Nein zu sagen. Den neuen Fraktionsvorsitzenden der Grünen, Krista Sager und Katrin Göring-Eckardt, fehlt ebenso wie schon ihren Vorgänger der politische Killerinstinkt eines Franz Müntefering oder eines Peter Struck. Die SPD ist viel zielgerichteter, wenn es darum geht, ihre Interessen durchzusetzen.
Der Wahlerfolg des kleinen Koalitionspartners basierte vor allem darauf, dass viele Liberale und viele Unentschlossene Grün gewählt haben. Mit Außenminister Joschka Fischer als Spitzenkandidat sahen die Grünen moderner, seriöser und kompetenter aus als die FDP mit ihrem "Kanzlerkandidaten" Guido Westerwelle und seinem damaligen Vize Jürgen Möllemann. Natürlich haben die Grünen in den vergangenen vier Jahren relativ wenig an Liberalisierung in der Wirtschafts- und Sozialpolitik erreicht - anders als in der Gesellschaftspolitik. Trösten konnte man sich aber stets mit den ungünstigen Mehrheitsverhältnissen im Bundestag, denn in der vergangenen Legislaturperiode waren die Grünen in einer politisch schwachen Position: Schröder hätte, zumindest rechnerisch, auch mit der FDP koalieren können. Noch nie zuvor war ein "Juniorpartner" in einer Koalition politisch so verwundbar gewesen.
Politisches Kapital verschwendet
Zudem haben die Grünen den Fehler gemacht, ihr politisches Kapital in den vergangenen Jahren auf zwei Kernbereiche zu verschwenden: den Ausstieg aus der Kernenergie und die Einführung der Ökosteuer. Auch das war Klientelpolitik alten Musters. Was danach an liberaler Energie übrig blieb, hat am Ende nicht ausgereicht.
Jetzt ist die Lage anders. Heute haben die Grünen die Macht und die Gelegenheit, ihre Interessen und die Interessen ihrer Wähler durchzusetzen. Beim letzten Mal fehlte es ihnen vielleicht noch an Erfahrung, doch diese Entschuldigung zieht nicht mehr. Wenn die Grünen jetzt klein beigeben, legen sie den Grundstein für ihre politische Bedeutungslosigkeit. Damit öffnen sie den Weg für die FDP, mit einer neuen Mannschaft und besonnenen Tönen das verloren gegangene liberale Terrain wieder zu besetzen.
Noch nie hatten die Grünen eine so günstige Gelegenheit, den Koalitionspartner in seine Schranken zu weisen, eigene Inhalte durchzusetzen und gleichzeitig politisch verantwortlich zu handeln. Wenn sie nur wollten, könnten sie fast ihr gesamtes Parteiprogramm durchsetzen. Sie könnten ein Wendepapier verfassen, das eine Neuausrichtung der deutschen Wirtschafts- und Sozialpolitik fordert - ähnlich wie es Hans-Dietrich Genscher Anfang der 80er Jahre tat. Natürlich können die Grünen nicht, wie seinerzeit Genscher, einfach den Koalitionspartner wechseln. Dafür gibt es weder ein Mandat, noch die notwenigen Mehrheiten, auch nicht in zwei Jahren. Aber der kleine Koalitionspartner kann sich mit seinen programmatischen Inhalten gegen die SPD behaupten.
Vor allem aber können sie ihren Wählern demonstrieren, dass sie ihr Versprechen, die Modernisierung Deutschlands voranzutreiben, halten werden. Für die Grünen und ihre Glaubwürdigkeit ist die Abstimmung am Freitag die Stunde der Wahrheit.
© 2002 Financial Times Deutschland
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