....In Hamburg bekam unter anderem der 68-jährige Fritz S. am vergangenen Mittwochmorgen Besuch von der Polizei. Der Physiker, seit Jahren in der Antiatombewegung aktiv, muss Speichelproben und Fingerabdrücke abgeben, seine Wohnung wird stundenlang durchsucht – »obwohl ein konkreter Tatverdacht fehlt«, wie sein Anwalt Andreas Beuth erklärt. Tatsächlich ist nur schwer vorstellbar, dass ein älterer Mann bei den Straftaten mitgewirkt hat, denen die Bundesanwaltschaft nachspürt. Denn es geht um Brandanschläge in Berlin und Hamburg, die von zwei Gruppen verübt wurden.Die eine, die sich schlicht »militante gruppe« nennt, trat erstmals im Juni 2001 auf. In Briefen unter anderem an den Regierungsbeauftragten für die Entschädigung der Zwangsarbeiter, Otto Graf Lambsdorff, erklärte sie, dass die NS-Opfer mit Brosamen abgespeist worden seien – und legte zur Verdeutlichung ihrer Absichten Gewehrpatronen bei. Seitdem verübte die militante gruppe mehrere Brandanschläge, etwa auf Fahrzeuge der Polizei, der Telekom, der Staatsanwaltschaft und zuletzt auf das Gästehaus der Bundesregierung. Die zweite Gruppe operiert vor allem in Hamburg und zielt anders als die militante gruppe nicht auf Institutionen, sondern auf Personen, auf Repräsentanten des »Systems«Die Bekennerschreiben der Gruppe enthalten altbekannte Worthülsen der Roten Armee Fraktion, auch tauchten auf einigen Vorbereitungstreffen militanter G8-Gegner RAF-Veteranen auf und sprachen Solidaritätsadressen. Aber anders als in den siebziger Jahren gibt es heute keine direkte Gewalt gegen Menschen. Niemals griffen in den vergangenen Jahren militante Linke direkt Personen an, immer nur flogen nachts Brandsätze auf ihre Autos oder Farbbeutel an die Wände ihrer Wohnhäuser. Und noch ein wichtiger Unterschied: Die Täter von heute sind völlig isoliert und zersplittert. Das schreiben selbst Bundeskriminalamt und Verfassungsschutz in ihren Jahresberichten, und das Hamburger Landesamt zählt insgesamt 69 Organisationen für 6000 sogenannte gewaltbereite Linksextremisten.
Doch der G8-Gipfel und der breite Protest dagegen, so die Befürchtung der Sicherheitsbehörden, könnten die Szene einen. Schon vor Monaten haben sich zahlreiche Gruppen in einem losen Bündnis zusammengefunden, das sich Interventionistische Linke (IL) nennt. Mit Bedacht meidet es gemeinsame inhaltliche Aufrufe, hat sich aber auf einen Minimalkonsens verständigt: unter anderem auf eine »klare und offensive Abgrenzung« gegen rechtsextremistische Globalisierungsgegner sowie eine »gegenseitige Anerkennung unterschiedlicher Aktions- und Widerstandsformen«, was »verbindliche Absprachen« erlaubt. ...Mit der Beschlagnahme von Computern, Servern, Handys, Flugblättern und sonstigem Informationsmaterial versuchten die Sicherheitsbehörden, einen Einblick in die Szene zu bekommen. Der alternative Internet-Provider so36.net in Berlin berichtete, die durchsuchenden BKA-Beamten hätten »den vollen Zugriff« auf alle Server verlangt und versucht, sämtliche gespeicherten Daten mitzunehmen – und nicht nur die E-Mails der im Durchsuchungsbeschluss genannten Personen.
Dass der Großeinsatz von vergangener Woche wirklich sinnvoll war, bezweifelt selbst Berlins Innensenator Ehrhart Körting (SPD): »Wir werden beim G8-Gipfel große Demonstrationen haben. Es wird natürlich auch Leute geben, die für Gewalttätigkeiten kommen. Das sind aber Bereiche, die man mit der Polizei abdecken kann«, so Körting. »Dagegen gibt es sehr viele, die die Globalisierungsfolgen höchst kritisch sehen – bis in die etablierten Parteien hinein. Wir sollten uns hüten, diese Menschen in einen Topf zu werfen mit ganz wenigen gewaltbereiten Grüppchen und damit den Protest als solches für illegitim zu erklären.«In der Tat sorgte die Durchsuchungsaktion für eine Mobilisierung der gesamten linken Szene. Dass zu Spontandemonstrationen am Mittwochabend Tausende Menschen kamen, überraschte selbst viele Teilnehmer. Gemäßigte Globalisierungsgegner und sogar die Jusos solidarisierten sich mit den Betroffenen. Die allgemein verbreitete Stimmung bringt ein Plakat auf den Punkt, das am Morgen nach den Durchsuchungen an der Roten Flora in Hamburg hängt: »Ene, mene, Muh – der/die Terrorist/in bist Du!« http://www.zeit.de/2007/21/Polizeirazzien
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