Überfall in Potsdam
Nehm wehrt sich gegen Kritik von Schönbohm
Nach dem Überfall: Blumen am Tatort 23. April 2006 Generalbundesanwalt Kay Nehm hat sich gegen die Kritik von Brandenburgs Innenminister Schönbohm (CDU) gewehrt, nach der es "überzogen" war, daß Nehm die Ermittlungen nach einem Überfall auf einen aus Äthiopien stammenden Wissenschaftler in Potsdam an sich gezogen hat. Am Sonntag sagte Nehm, der Generalbundesanwalt sei immer dann zuständig, "wenn eine fremdenfeindliche Straftat geeignet ist, Verfassungsgrundsätze zu untergraben".
Bislang sei davon auszugehen, daß diese Tat die Kriterien erfülle, die nach der Rechtsprechung für eine Übernahme durch seine Behörde gegeben sein müssen: "Beurteilungsgrundlage hierfür ist der Stand der Ermittlungen im Zeitpunkt der Entscheidung über die Übernahme." Nehm bekräftigte, es hätten "politische Aspekte und Fragen der Qualität bei der Beurteilung dieser Rechtsfrage keine Rolle gespielt". Die Ermittlungen an Ort und Stelle führt eine Sonderkommission der Potsdamer Polizei, die 25 Mitarbeiter umfaßt.
„Stigmatisierung Brandenburgs“
Schönbohm hatte der Frankfurter Allgemeinen Sontagszeitung gesagt: "Der Generalbundesanwalt hat überzogen. Er hat aus der Sache ein Politikum gemacht und zu einer Stigmatisierung Brandenburgs beigetragen. Der politische Schaden, den er angerichtet hat, ist erheblich." Nehm, der die Ermittlungen am Dienstag wegen des Verdachts an sich gezogen hatte, das Tatmotiv sei Fremdenfeindlichkeit gewesen, hatte zuvor Schönbohm dafür kritisiert, daß er die Festnahme eines der Tatverdächtigen am Donnerstag vor der Festnahme des zweiten Verdächtigen öffentlich bekanntgegeben habe. Schönbohm wies zurück, die Ermittlungen damit gefährdet zu haben.
Der lebensgefährlich am Kopf verletzte Ermyas M. liegt nach Angaben des Krankenhauses immer noch im künstlichen Koma. Doch habe er erste eigene Atemzüge gemacht, sagte eine Sprecherin der Potsdamer Klinik am Sonntag.
Der deutsche Staatsbürger M. war am frühen Ostersonntagmorgen von zwei Männern an einer Straßenbahnhaltestelle überfallen und beraubt worden. Er liegt seither schwer verletzt im Krankenhaus. Zu Berichten, M. sei durch einen einzigen "äußerst wuchtigen Faustschlag" am Kopf so schwer verletzt worden, sagte Nehm, es sei bisher nicht klar, ob ihm über die schwere Kopfverletzung hinaus weitere Verletzungen zugefügt worden seien. Sein Zustand erlaube es gegenwärtig nicht, alle Verletzungen "durch rechtsmedizinische Untersuchungen sicher feststellen zu lassen". Der Tathergang ist derweil noch nicht aufgeklärt. Die Ermittlungen dauern an, wie Nehm weiter mitteilte.
„Justizskandal“
Eine erste molekulargenetische Untersuchung habe ergeben, daß DNA-Spuren auf Splittern einer Bierflasche am Tatort von dem verhafteten 30 Jahre alte Thomas M. stammen könnten, teilte Nehm mit. Der verhaftete 29 Jahre alte Björn L. sei „wahrscheinlich einer der Sprecher des auf einer Telefon-Mailbox aufgezeichneten Gesprächsteils“. Beide Tatverdächtige bestreiten die Tat und verweisen auf Alibis. Der Anwalt von Björn L. sprach von einem „Justizskandal“.
Nach Presseberichten war das Opfer, Ermyas M., in der Osternacht schwer betrunken und hatte mehr als zwei Promille Alkohol im Blut. Die „Märkische Allgemeine“ berichtete am Samstag, der 1,97 Meter große M. habe sich an dem Abend erst mit seiner Frau, dann mit dem Fahrer eines Nachtbusses gestritten und habe, nachdem er aus dem Bus wieder ausgestiegen sei, zu den Tatverdächtigen „Schwein“ gesagt, als sie vorübergingen. Er habe versucht, einen von ihnen zu treten. Danach erst sei er von ihnen als „Scheiß Nigger“ beschimpft worden. Die Zeitschrift „Focus“ berichtete von einem Zeugen, der eine tätliche Auseinandersetzungen zwischen dem späteren Opfer und den Tatverdächtigen in einer Diskothek beobachtet haben soll. Zu Schilderungen des Tathergangs nahm Nehm am Sonntag nicht Stellung.
Etliche Dutzend Hinweise
Schönbohm und später auch Bundesinnenminister Schäuble hatten in der vergangenen Woche die Öffentlichkeit mehrmals davor gewarnt, sich vor der Ermittlung des Tathergangs auf Motive für die Tat festzulegen. Inzwischen ist die Potsdamer Polizei etlichen Dutzend Hinweisen von Tatzeugen gefolgt. Ein Anruf von Ermyas M. war auf dem Mobiltelefon seiner Frau aufgezeichnet worden.
Der Mittschnitt, auf dem drei Stimmen und die Bemerkung „Scheiß Nigger“ zu hören waren, wurde öffentlich zugänglich gemacht und hat Hinweise auf die möglichen Täter gebracht. Am Donnerstag abend nahm die Polizei M. und L. fest, die am Freitag in Karlsruhe verhört wurden, wo der Haftrichter Haftbefehl gegen die beiden erließ. Sie wurden inzwischen in unterschiedlichen Brandenburger Gefängnissen untergebracht.
„Bornierte Westsicht“
Unvermindert scharf wurde Innenminister Schäuble kritisiert, der darauf hingewiesen hatte, auch blonde, blauäugige Menschen würden Opfer von Straftaten, und der vermutet hatte, daß die Fremdenfeindlichkeit in den Regionen der ehemaligen DDR wegen der Abschottung durch die SED besonders weit verbreitet sein könnte. Sprecher von FDP, SPD und Grünen forderten Schäuble zu Erklärungen und Distanzierungen auf. Der FDP-Vorsitzende Westerwelle nannte beim Landesparteitag der Thüringer FDP Schäubles Äußerungen eine „bornierte Westsicht“ und „in keiner Weise akzeptabel“.
Der Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen im Bundestag, Beck, nannte den Erklärungsversuch Schäubles „für einen Innenminister nicht tragbar“. Der SPD-Generalsekretär Heil forderte Schäuble in der „Berliner Zeitung“ vom Samstag auf, seine Bemerkungen zu präzisieren: „Ich finde es bestürzend, daß der Bundesinnenminister solch aggressiven Rassismus zumindest fahrlässig verharmlost“, sagte er.
Der Vorsitzende des Innenausschusses des Bundestags, der SPD-Abgeordnete Sebastian Edathy, widersprach am Sonntag Meldungen, nach denen die Zahl rechtsextremistisch begründeter Straftaten im vergangenen Jahr zurückgegangen sei. Sie sei vielmehr stark gestiegen, die Zahl der Gewaltdelikte habe um 23,6 Prozent von 776 (2004) auf 959 zugenommen, sagte er. Edathy forderte das Innenministerium auf, die Zahlen aus dem Verfassungsschutzbericht früher als geplant bekanntzugeben.
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