Chefvolkswirt: "Niemand weiß, wann die kritische Null-Marke erreicht ist"
28. Juli 2011 15:56 Chefvolkswirt: "Niemand weiß, wann die kritische Null-Marke erreicht ist"
Wie ein Damoklesschwert schwebt der US-Schuldenstreit über den Weltbörsen. Vergeblich warten die Anleger auf eine Einigung zwischen Republikanern und Demokraten. DER AKTIONÄR sprach mit Dr. Ulrich Kater, Chefvolkswirt bei der DekaBank, über seine Einschätzung der Lage, mögliche Auswege aus der Schuldenkrise und die weitere Entwicklung von Dow Jones, DAX & Co.
DER AKTIONÄR: Die Mehrheit der Börsianer glaubt an eine Einigung in letzter Sekunde im US-Haushaltstreit. Sie auch?
Dr. Ulrich Kater: Ich denke, wir sollten uns mit der Möglichkeit vertraut machen, dass der Poker weitergeht. Mehr und mehr Markteilnehmer machen das. Es wird eine Einigung geben. Fragt sich nur wie haltbar die ist und was für Schäden bis dahin angerichtet werden.
Bleibt die Einigung aus: Was wären die Folgen für die Wirtschaft und für die Finanzmärkte?
Wir haben es hier mit einer Uhr zu tun, die rückwärts gen Null läuft. Nur weiß niemand, wann denn genau die kritische Null-Marke erreicht ist. Der 3. August als Datum für die Zahlungsunfähigkeit hat eher die symbolische Bedeutung, dass die US-Politik nicht mehr in der Lage ist, verlässliche Rahmenbedingungen für die Finanzmärkte bereitzustellen. Danach werden Zahlungen verschoben werden. Ich rechne mit Verzögerungen bei Sozialleistungen und Renten. Wirklich kritisch wird es erst, wenn Anleihen nicht mehr ordnungsgemäß bedient werden sollten. Bis dahin ist noch etwas Zeit. Wie viel Zeit, das weiß wohl nur das US-Finanzministerium.
Erste Stimmen sprechen von einem totalen Kollaps der Weltwirtschaft. Wie realistisch ist dieses Szenario?
Sollte sich der Streit noch wochenlang hinziehen, und sich die Meldungen über nicht geleistete Zahlungen der USA häufen, werden die Märkte immer nervöser werden. Ein Zusatzproblem liegt darin, dass die Märkte dann Eigendynamiken entwickeln können. Ist das Vertrauen erst einmal verloren, kann dies unter Umständen auch eine Einigung im Schuldenstreit nicht wieder vollständig wettmachen. Denn die Marktteilnehmer fragen sich, wann die nächste unlösbare Politikfrage auftaucht.
Und im Umkehrschluss - wären mit einer Einigung im US-Haushaltsstreit wieder alle Sorgen vom Tisch?
Nein, das Vertrauen ist angeknackst. Es geht ja nicht nur um eine Verwaltungsanordnung. Es zeigt sich jetzt auch, dass die Finanzkrisenpolitik der USA an eine Grenze gestoßen ist. Bislang wurden mit extremen finanz- und geldpolitischen Maßnahmen die Strukturprobleme der US-Wirtschaft verdeckt. Das kann nun nicht mehr fortgesetzt werden.
Wie geht es mittel- und langfristig weiter? Können die USA ihren gigantischen Schuldenberg überhaupt jemals abtragen?
Das ist eine sehr schwierige Aufgabe, die die USA übrigens mit vielen europäischen Ländern teilen. Auch die USA werden nun vor die Aufgabe gestellt, zu konsolidieren, ohne dabei die wirtschaftliche Erholung zu stark zu gefährden. Eine zu starke Sparpolitik gefährdet die Konjunktur, ein "weiter-so" gefährdet die Kreditwürdigkeit.
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Wie und vor allem wer kann den viel zitierten Karren aus dem Dreck ziehen?
Die US-Regierung muss einen langfristigen Finanzplan aufstellen, dem die Märkte entnehmen können, dass Defizite und Schuldenstand eingedämmt werden können, ohne die Konjunktur zu gefährden. Die USA kommen um eine Grundsatzentscheidung nicht herum: entweder die neuen Sozialausgeben sollen bleiben, dann müssen die Steuern erhöht werden. Oder die Steuern bleiben auf dem niedrigen Niveau, dann müssen aber auch die Ausgaben gesenkt werden.
Wie sehen Sie die weitere Entwicklung von Dow Jones, DAX & Co?
Die USA wird einen Gang zurückschalten müssen. Wir sollten uns mit der Vorstellung anfreunden, dass das Mutterland der Finanzkrise an deren Folgen noch lange zu arbeiten haben wird. In dieser Zeit wird das Wachstum geringer ausfallen. Dadurch verschiebt sich auch die Aufwärtsphantasie für den US-Aktienmarkt. Für die europäischen Märkte bin ich optimistischer. Wenn der Euro seine Probleme überwinden kann, wird sich herausstellen, dass Europa - insbesondere Nordeuropa - gegenwärtig eine der attraktivsten Investmentregionen der Welt ist.
Vielen Dank für das Gespräch!
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