SPIEGEL ONLINE - 11. Juli 2006, 09:38 URL: http://www.spiegel.de/sport/fussball/0,1518,426051,00.html Fernschuss Dschungel und Zivilisation
Von Thomas Hüetlin Nur einer der großen Individualisten überlebte den Sicherheitsfußball des Turniers und schaffte es bis ins Finale. Dort verspielte Zinedine Zidane mit seiner Tätlichkeit Sympathien und den WM-Titel. Dennoch hatte dieser Kopfstoß eine seltsame Größe. Es war das erste Finale, bei dem ich anfing zu zappen, weil ich vor lauter Langeweile unruhig wurde. Zwei Mannschaften gingen da in Berlin auf dem Rasen spazieren statt zu laufen. Zwei Mannschaften wollten Tore verhindern statt sie zu kreieren. Zwei Mannschaften gingen davon aus, dass sie schon gewonnen haben, wenn sie nicht verlieren. Den Rest sollte der Trainer entscheiden und das Elfmeterschießen. ZINEDINE ZIDANE: STATIONEN EINER KARRIERE Klicken Sie auf ein Bild, um die Fotostrecke zu starten (14 Bilder).
| Das Finale von Berlin war die konsequente Bilanz eines Turniers, das vor allem von einem großartigen Publikum verzaubert wurde und einer neuerdings sehr mutigen deutschen Mannschaft, weniger von denen, die von ihrer außergewöhnlichen Begabung her auf dem Feld eigentlich dazu bestimmt sind. Ronaldinho wurde von einem ängstlichen Sicherheitstaktiker erstickt, Lionel Messi kaum eingesetzt, Deco an die Leine gelegt - kurz jedem, der unter Genieverdacht stand, wurde das Leben schwer gemacht. Es war nicht erwünscht, dass jene einen eigenen Rhythmus für das Spiel erfinden. Auch sie wurden dazu erniedrigt, die drögen Überwachungskonzepte der Bankstrategen rasterfahndungs-mäßig umzusetzen. Am Ende blieb von den großen Individualisten des Fußballs nur noch einer übrig. Zinedine Zidane, der vielleicht beste Spieler der letzten zehn Jahre; ein Mann, der nicht nur Tore vorbereitete und schoss, sondern vor allem einer, der eine Mannschaft formen und führen konnte mit dem Takt seines Spiels und der Härte seines Geistes. ZUR PERSONThomas Hüetlin, Jahrgang 1961, wurde in München groß. Für den SPIEGEL ist der Kisch- Preisträger als Korrespondent in London; zuvor berichtete Hüetlin aus New York. Der Buchautor ("Gute Freunde" - Die wahre Geschichte des FC Bayern München) schreibt exklusiv bei SPIEGEL ONLINE eine WM- Kolumne. |
| In einem Spiel, das zunehmend von zugestellten Räumen bestimmt wird, war Zidane der beste Geometriker, eine Art Leonardo da Vinci des Rasens, einer, der Fluchtwege für den Ball fand und Perspektiven, um das eingeschlossene Spiel zu befreien mit Ideen, die den meisten seiner Berufskollegen niemals greifbar sein werden. Es sollte Zidanes letzter großer Auftritt werden am Sonntag vor einem Milliardenpublikum, weltweit, und jeder weiß, wie er endete. "Das Spielfeld ist ein Dschungel und damit dieser Dschungel weiter existieren kann, brauchen wir die Zivilisation, die Industrie, den Kommerz etc. Nur die Zivilisation darf nicht rauf auf das Spielfeld: Betreten verboten", hat der Fußballphilosoph Jorge Valdano meinem Freund Lothar Gorris und mir vor ein paar Monaten gesagt. In Berlin sahen wir gestern abend 109 Minuten das Gegenteil. Wir sahen, wie die Zivilisation den Dschungel eroberte, wir sahen die Abwesenheit von all dem, was diesen Sport groß gemacht hat - Mut, Risiko, der Hunger nach Neuem. Statt dessen sahen wir sich verschiebende Abwehrreihen und all den anderen Unfug, an dem sich Nerds erfreuen können, wie der US-Ermittler Ken Starr, der als Hobby Schuhe putzen angibt. Zidanes Kopfstoß war keine kluge Aktion, es sollte keine beispielhafte werden, und ich rate jedem davon ab, sie zu Hause oder in der Kneipe auszuprobieren, weil Leute wie Sie oder ich dafür zu Recht mit Handschellen, Geldstrafe und möglicherweise Gefängnis belohnt werden. Trotzdem hatte der Kopfstoß in seiner bizarren Ungezähmtheit und Rücksichtslosigkeit, auch gegen sich selbst, eine seltsame Größe. Er zeigte den Dschungel, der dem Spiel erst seinen Glanz verleiht, von seiner hässlichen Seite. Es war nicht schön, aber es war der Dschungel. Es gibt nun viele Leute, die rumjammern, wie Zidane sowas Dummes habe tun können, sich und das Spiel dermaßen zu erniedrigen und so weiter. Es sei diesen Leuten zum Trost gesagt, dass Zidane nicht bei der Allianz arbeitet. Als Materazzi ihm angeblich "Du bist der Sohn einer terroristischen Hure" hinterherrief, explodierte etwas in Zidane, was nicht hätte losgehen dürfen. Zum Verständnis sei gesagt, dass Zidanes Mutter Malika kurz vor dem Spiel ins Krankenhaus eingeliefert wurde und es eine Unverschämtheit ist, jemanden wegen seiner Herkunft zum Terrositen zu stempeln. In 25 Jahren auf französischen Fußballplötzen muss Zidane eine Menge Beschimpfungen gehört haben, aber diese noch nicht. Trotzdem ist er kein Selbstmordattentäter. Zu den Paradoxien des modernen Sicherheitsfußballs gehört, dass seine Legende in ein paar Wochen, wenn das politisch korrekte Gezeter vorbei ist, größer sein dürfte statt kleiner. An "Zizou", den modernen Mönch des Spiels, dem Sohn algerischer Einwanderer, dem sein Vater die bis heute in Frankreich gültige Weisheit einbläute, dass ein "Immigrant doppelt so hart arbeiten muss wie ein normaler Mensch und niemals aufgeben darf", werden sich meine Töchter jederzeit erinnern. Von Marco Materazzis Karriere werden sie nur behalten, dass er seine Programmierung erfüllte (Ecke und Kopfball verwandelt) und "Zizou" Rot sehen ließ.
|