450 Deutsche sind laut Verfassungsschutz in den Dschihad gezogen und kämpfen in Syrien oder Irak für einen Islamischen Staat. Sie entstammen alle der Salafisten-Szene. Wir haben einen Aussteiger gefragt: Wie wird man so radikal? Zur Person
Steven, geboren 1988, sucht schon seit er 15 ist nach einer klaren Ordnung in seinem Leben. Damals wohnt er noch in Niedersachsen und knüpft Kontakt zur Neonazi-Szene. Später wird er NPD-Mitglied, ist Mitglied bei einer freien Kameradschaft. Mit Anfang 20 überdenkt Steven die Nazi-Parolen, wendet sich ab. Seine Radikalität verliert er jedoch nicht: Stevens Sinnsuche führt in ein anderes Extrem, den Salafismus. Eine Verlagerung, die durchaus typisch ist, wie der Islam-Theologe Ali Ghandour meint: "Neonazis und Salafisten liegen nicht so weit auseinander. Beide verfolgen extreme Ideologien, die die Welt in ein Schwarz-Weiß-Muster aufteilen: Wir gegen die anderen." In kürzester Zeit radikalisert sich Steven so sehr, dass er mit 23 darüber nachdenkt, in den Dschihad zu ziehen. Heute sagt er: "Das Radikale hatte sich bei mir nicht verändert, nur das Muster war ein anderes. Es war die große Suche nach dem Glücksgefühl." Mittlerweile ist er 26, immer noch gläubiger Muslim - aber kein Salafist mehr. --------------------------------------------------
450 Deutsche sind laut Verfassungsschutz in den Dschihad gezogen und kämpfen in Syrien oder im Irak für einen Islamischen Staat. Sie entstammen alle der Salafisten-Szene. Wir haben einen Aussteiger gefragt: Wie wird man so radikal?
PULS: Steven, du kommst aus einer evangelischen Familie, bist in Potsdam geboren. Wie wurde aus dem evangelischen Steven ein Salafist?
Steven: So mit etwa 22 habe ich mich plötzlich innerlich sehr leer gefühlt. Im Nachhinein würde ich sagen, ich war depressiv. Ich hatte das Gefühl, nur feiern und arbeiten - das kann ja nicht der Sinn des Lebens sein. Dann habe ich nach etwas Höherem gesucht und das war dann der Salafismus. Nur, damals wusste ich nicht, dass es Salafismus ist - ich dachte, das ist halt der Islam. Heute würde ich sagen: Ich war Salafist.
Wie hat das alles angefangen?
Mit YouTube-Videos. Ich habe mir sehr, sehr viele Videos reingezogen, vor allem Predigten. Das hat mich begeistert.
Was waren denn die inhaltlichen Punkte, die du gut fandest?
Vorher hatte ich das Gefühl, die Welt und alles um mich herum ist wahnsinnig kompliziert. Dann war plötzlich alles so einfach. Es gab nur noch Gut und Böse. Und ich hatte die Möglichkeit, zu den Guten zu gehören.
Wie ist es nach dem Video gucken weiter gegangen?
Lange lief das nur über das Internet, aber dann wurde ich in Nürnberg bei einer Koranverteilungsaktion auf der Straße angesprochen. Ich hatte mich ja vorher schon sehr für den islamischen Glauben interessiert, ich trug auch schon typische Kleidung. Der Mann hat mich dann in eine Nürnberger Moschee eingeladen. Dann ging es richtig los und ich bin ich regelmäßig zu Treffen von Salafisten gegangen.
Wie hast du dich in der Zeit verändert?
Ich habe den Kontakt zu meinen Eltern abgebrochen und zu den meisten Freunden. Eigentlich zu jedem, der nicht an das selbe geglaubt hat wie ich. Ich wurde immer radikaler und hatte irgendwann auch keine Lust mehr, raus zu gehen. Ich war unglaublich kalt zu anderen Menschen, aber habe mich die ganze Zeit als was sehr Besonderes gefühlt.
Wie hast du dich Frauen gegenüber verhalten?
Eigentlich gar nicht. Sie waren halt einfach da. Also sie waren halt Frauen. Aber man hat sie nicht mehr wahrgenommen. Ich habe sie nicht mehr berührt, ich habe sie nicht mal mehr begrüßt.
Hattest du damals das Gefühl, es ist cool, was du da machst?
Dieses ganze Image, auch wie die Videos aufgezogen sind, wurde einem irgendwie als cool vermittelt. Diese Klänge, der Dschihad, Kampfszenen, ein Redner, der mit der Faust auf den Tisch haut. Dieses Harte und dieses Für-eine-Sache-Einstehen, das war schon cool. Dass es Leute gibt, die einfach voll überzeugt sind. Es war so eine Haltung, nach dem Motto: Wir sind zwar anders als ihr, aber wir sind trotzdem coole Leute.
Jetzt liest man ja gerade in letzter Zeit immer wieder von Leuten, die in den sogenannten Dschihad auswandern, nach Syrien oder in den Irak, um Ungläubige zu töten. Fandest du das damals richtig?
Es fällt mir wirklich schwer, darüber zu sprechen, aber leider muss ich rückblickend sagen: Ich fand das positiv. Ich habe das so hingenommen. Ich dachte, das gehört eben zur Religion, das ist richtig. Ich dachte auch, die Leute hatten ja ihre Möglichkeit, sich für das Richtige zu entscheiden - wenn sie es nicht tun, sind sie ja auch selbst schuld.
Wie kurz davor warst du denn, selbst in den Dschihad zu gehen?
Ich denke, es hat nicht mehr allzu viel gefehlt. Wenn mich Leute noch mehr dazu ermuntert hätten, dann hätte sich das vielleicht sogar beschleunigt. Aber ich denke, ein halbes Jahr oder ein Jahr später wäre ich wahrscheinlich so weit gewesen und wäre gegangen.
So weit ist es ja nicht gekommen. Wie bist du rausgekommen?
Obwohl ich mich so sehr zum Negativen verändert hatte, hat meine Freundin sich nicht von mir abgewandt. Sie ist auch zum Islam konvertiert, wir wollten heiraten. Wir haben also über das Internet nach jemandem gesucht, der uns traut. Der Muslim, der uns schließlich verheiratet hat, hat mich dann auf meinen Glauben angesprochen und fand meine Haltung radikal. Er und meine Frau haben es geschafft, mich davon zu überzeugen, dass ich viel zu extrem unterwegs war. Sie haben mich nicht bedrängt, sondern waren sehr geduldig mit mir. Es war extrem hart, sich selbst einzugestehen, dass man einen falschen Weg eingeschlagen hat. Und so ganz verarbeitet habe ich das alles immer noch nicht. Ich bin heute aber sehr froh, dass meine Frau immer den Kontakt zu mir gesucht hat - genau wie meine Eltern übrigens auch.
Was empfindest du, wenn du an diese Zeit zurückdenkst? Ich empfinde eigentlich keine Scham, ich empfinde vor allem Traurigkeit. Ich kann heute nicht mehr verstehen, warum ich damals so gedacht habe, wie ich so radikal werden konnte. Vor allem nicht, wieso ich mich komplett von meinen Eltern abgewendet habe. Heute sagen mir oft Leute, das muss man doch sehen, das kann doch nicht sein. Aber ich hätte selbst auch nie gedacht, dass mir so etwas passiert. Vielleicht passiert so was auch genau deswegen, weil man immer denkt, mir passiert so was nicht.
Wie denkst du heute über den Islam?
Ich bin immer noch Moslem. Ich bin aber nicht mehr radikal. Ich glaube, der Islam hilft mir dabei, ein gutes Leben zu führen. Heute wäge ich genau ab: Welches Verhalten ist angemessen, was ist übertrieben? Ich versuche, keinen mehr vor den Kopf zu stoßen und mit anderen zu reden. Ich erkläre Leuten meinen Glauben, statt einfach dicht zu machen. Ich akzeptiere die Zeit, in der ich lebe und auch die Kultur, in der ich lebe. Mein oberstes Ziel ist es heute, niemanden zu verletzen, also mit anderen Leuten gut umzugehen.
|