Hier mal die Ergebnisse des von den Befürwortern selbst beim Fraunhofer Inst. in Auftrag gegeben. Für "Klickfaule" stell' ich's einfach mal komplett rein ;-)) Seit mehr als eineinhalb Jahrzehnten ist "Stuttgart 21" ein Thema für – je nach Blickwinkel – verheißungsvolle oder weltfremde Visionen und Grund für hartnäckige Grübeleien, bittere Meinungsunterschiede und schwere Zerwürfnisse. Kein Bauprojekt in Deutschland symbolisiert das Ende des Fortschrittsglaubens, der Kalkulierbarkeit von Großprojekten und der demokratischen Willensbildung mehr als die Idee, die Verkehrsstruktur einer Stadt wie Stuttgart umzukrempeln. Hartmut Mehdorns jüngste Äußerungen zum Umbau des Bonatz-Baus und eine neue Visualisierungspräsentation des Ingenhoven/Frei Otto-Projektes schüren Angst und Schrecken. Beflügeln wie in Zeiten des frühen Wirtschaftswunders können Projekte dieser Art nicht mehr; beflügeln könnte vielmehr die Einsicht, dass das Eingeständnis eines Irrtums nicht mit kleinkariertem Sparen, sondern einem radikalen Umdenken zu einem herausragenden Ergebnis führen könnte. Die "Buckelpiste" über den Gleisen. Was soll auf diesem Platz passieren? Wie werden die "Lichtaugen" vor Vandalismus geschützt? Werden sie überhaupt gebaut? (Bild: Animation Fraunhofer IAO) Die Uhr tickt. Am 11. September 2008 – kann man das Datum für einen politisch wichtigen Termin ungeschickter wählen? –, also am 11. September unterschreiben Bahnchef Hartmut Mehdorn, Minister Wolfgang Tiefensee und der Landesvater Günther Oettinger einen Finanzierungsvertrag für eines der größten Projekte in der europäischen Mobilitätsgeschichte, das in einer blanken Katastrophe enden kann – gestalterisch, finanziell, funktional. Befürworter des Projektes verhalten sich schon jetzt, wo alles noch anders werden könnte, wie Schönredner par excellence. Was ist passiert? Der neue Haupteingang zum Bahnhof neben dem Bonatz-Bau: Vor Jahren schon als Schwachpunkt benannt. (Bild: Animation der Fraunhofer IAO) Anlass für diesen Kommentar bieten zwei Veranstaltungen – und die kurze Zeit bis ultimo. Hartmut Mehdorn stellte sich just in Stuttgart der ein oder anderen unbequemen Frage zur Zukunft des Projektes Stuttgart 21. "Wir denken darüber nach, die äußere Hülle des Entwurfs zu ändern", hatte ein Bahn-Manager im Herbst 2006 den Stuttgarter Nachrichten anvertraut. Niemand wurde seinerzeit hellhörig oder mitteilsam. Aber wo es jetzt um die Finanzierung und letzte Fragen geht, leuchten alle Alarmsignale. Hartmut Mehdorn nannte nun "Brandschutz und Akustik" als kritische Punkte des Entwurfs. O-Ton Mehdorn: "Mal sehen, wie der Bahnhof am Ende aussieht." Gerade das, was seinerzeit zum Preis führte, wird jetzt argwöhnisch betrachtet: die Betonschalen der "Lichtaugen". Auch wegen der Frage, wie die "Lichtaugen" außen vor Vandalismus geschützt und reinigungstechnisch in den Griff zu bekommen seien. Es darf nicht wahr sein: 16 Jahre nach dem Wettbewerb wird dieses Problem erkannt? Welche Stümper sind hier am Werk? Zum zweiten: Das Institut für Architekturgeschichte der Uni Stuttgart organisierte ein kleines Symposium zum Stande der Dinge und ihrer Geschichte. Dort wurden auch die hier gezeigten Bilder präsentiert, die Teile einer "Visualisierung" des Entwurfes von Christoph Ingenhoven und Frei Otto sind, die 1997 den ersten Preis in einem prominenten Wettbewerb errungen hatten. Diese Visualisierung, beim Fraunhofer IAO in Auftrag gegeben, ließ auch die Befürworter des Projektes im Stuttgarter Gemeinderat schaudern.
Blick in die Haupthalle, Raumhöhe etwa 4,60 m. (Bild: Animation Fraunhofer IAO) Das Finanzierungsmodell ist fragwürdig. Nachdem der neue Berliner Hauptbahnhof – ein typisches Riesenprojekt – in abgespeckter, genauer gesagt: hallenverkürzter Version prompt 40 Prozent teurer geworden ist als geplant, lässt sich eine Größenordnung des finanziellen Risikos für Stuttgart erahnen. Um nur mal eine Finanzdimension zu benennen: Wird Stuttgart 21 teurer als geplant, hätten 1998 Stadt und Land (=der Steuerzahler) bis zu 87 Mio Euro, die Bahn unbegrenzt gezahlt. 2008 würden Land und Stadt bis zu 940 Mio Euro (mehr als das Zehnfache von 1998) und die Bahn bis zu 330 Mio Euro zahlen (Quelle: Stuttgarter Nachrichten, LBBW). Wir kommentieren diese Zahlen nicht, sondern weisen darauf hin, dass 2009 mit dem Bau begonnen werden soll und es inklusive Streckenum- und Neubau nicht um Millionen, sondern Milliarden Euro geht. Apropos Visualisierung: Bereits 1997 beim Wettbewerb hatte die Fachpresse auf die geringen Raumhöhen und Bonatzbaubeschädigungen im preisgekrönten Entwurf hingewiesen. Mit Worten, nicht mit Bildern. Die jetzige Visualisierung – im Auftrag der Bauherrschaft entstanden – hätte Aufgabe der Architekturkritik sein müssen, die sich neuer Mittel bedienen müsste: Worte allein genügen manchmal nicht. Architekten nutzen geschönte Bilder für ihre Zwecke, die Kritik sollte eigene Bilder liefern.
Blick in die Querhalle, Raumhöhe 4,60 m. (Bild: Animation Fraunhofer IAO) Die Stimmung in Stuttgart ist mulmig. Das Projekt von 1997 wirkt angestaubt und gestrig, das Unbehagen angesichts des nahenden Baubeginns wächst. Seinerzeit war Klaus Humpert Vorsitzender des Preisgerichts, und er rief am vergangenen Freitag beim besagten Kolloquium ins Gedächtnis, dass man weiland begeistert von Frei Otto und seiner Präsentation in seinem Atelier gewesen sei – Frei Otto und Christoph Ingenhoven sind inzwischen zerstritten. Außerdem ist Hartmut Mehdorns Sparkurs nicht mit Heinz Dürrs Kulturbewusstsein vergleichbar – und nach den Erfahrungen mit gmp in Berlin wird sich Sparer Mehdorn in Stuttgart erst recht nicht über den Gestaltertisch ziehen lassen. Stuttgart bekommt für abartig viel Geld eine erdrückende U-Bahnstation als neuen Hauptbahnhof, vorläufig mit drei Reihen Lichtaugen statt ursprünglich vier. Nun wagen wir die Prognose, dass alle Lichtaugen verschwinden und ein paar handelsübliche Oberlichter zur Zierde des U-Bahnhofs reichen müssen, außerdem der Bonatzbau an Läden wie Lidl und Nanu-Nana vermietet wird. Allein das Geld, das seitens der Macher derzeit in Werbung gesteckt wird, schmerzt entsetzlich. Die Blamage scheint unausweichlich. In der oberen Erschließungsebene. (Bild: Animation Fraunhofer IAO) Irrtum ist nicht gar so schlimm, wenn Einsicht aus ihm folgt. Auf die wartet man in Stuttgart. Ein neues Projekt, das dem Erkenntnisstand aus 16 Jahren Planungszeit, einer völlig veränderten Stadtentwicklungsproblematik in Europa und der Energie- und Ressourcenkalamität weltweit Rechnung trägt, ist dringend geboten. Es mag bereits viel Geld in die Planung geflossen sein, aber erweist sie sich als Fehlplanung, wird ein stringentes, neues Konzept immer noch billiger. Aber wie kann es einer trägen, schwerfälligen, verkrusteten und in weiten Teilen verfilzten Gesellschaft wie der unserigen gelingen, ein Dinosaurierprojekt zu bremsen? Vorschläge bitte an frei04-publizistik... ubQuelle: www.magazin-world-architects.com/de_08_25_onlinemagazin_s21_de.html
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