Die rechte Flanke der Liberalen Von Karen Horn Es steht nicht gut um den Liberalismus. Überall in Europa verlieren die freiheitlichen Parteien an Bedeutung. Für die Freiheit zu werben, war immer schwierig. Das öffentliche Bild, der Liberalismus sei ein Ideengebäude für hartherzige Ökonomisten, ist nicht leicht abzuschütteln. Doch nun droht er auch noch die letzten Sympathiewerte zu verspielen – durch reaktionäre Unterwanderung. Gewöhnt, dass die Angriffe auf die Freiheit seit Ende des Zweiten Weltkriegs vor allem von der linken Seite des politischen Spektrums kamen, haben viele die rechte Gefahr nicht erkannt. Das wichtige Argumentarium gegen Umverteilung und Enteignung, gegen Bevormundung und Gleichmacherei, gegen „soziale Gerechtigkeit“, Sozialstaat, Planwirtschaft und Zentralisierung, gegen die Trennung von Freiheit und Verantwortung, gegen Bürokratie und Protektionismus, gegen Kapitalismus- und Globalisierungskritik – das beherrschen die meisten freiheitlich Gesinnten in ebenjenem Schlaf, aus dem sie jetzt jäh aufschrecken. Wo nur kommt der Brass auf Ausländer in den eigenen Reihen her? Das Schönreden von Diskriminierung? Die Ausfälligkeiten gegenüber Gleichstellung, Inklusion und Integration? Die Sticheleien gegen Homosexuelle? Das Gerede von der „natürlichen Bestimmung der Frau“? Die schrillen Aufrufe zur „Re-Evangelisierung des Abendlandes“, von der das Überleben der Zivilisation abhänge? Die Anbiederung an den starken Mann Russlands, obschon dieser sein Volk knechtet, die Nachbarn überfällt und den Westen übertölpelt? Nein, all das haben die meisten nicht kommen sehen, auch wenn es natürlich nicht über Nacht geschah. Man hielt es unter Liberalen für unmöglich. Ist es auch: Was da am rechten Rand wächst, hat den Namen Liberalismus nicht verdient. Der Journalist Michael Miersch war einer der ersten, die hörbar aufschrien. Der Mitbegründer und Miteigentümer des Blogs „Die Achse des Guten“ zog sich Ende Januar mit einem Paukenschlag aus seiner vielgelesenen Seite zurück. Die liberale, weltoffene, aufgeklärte Haltung des Blogs sei verloren gegangen, schrieb er traurig; die apokalyptischen, antiwestlichen, nationalkonservativen und ausländerfeindlichen Ergüsse mancher Autoren und vieler Lesern wolle er nicht mehr tragen. Die Nähe zur AfD wie auch zur Pegida sei ihm zuwider. Er wolle sich nicht länger täglich ärgern, „wenn Menschen verbal ausgegrenzt und herabgesetzt werden, weil sie als Moslems geboren wurden“, und er finde es auch nicht lustig, wenn behauptet werde, die EU ähnele der UdSSR. Das „reflexhafte Dreindreschen auf alles, was unter dem Verdacht steht, ,links‘ zu sein“, rege ihn genauso auf wie die „verlogene Idealisierung der christlichen Familie als Keimzelle der Nation“. Danke, Michael Miersch! Was er da geisselte, ist das, was die um deutliche Worte ebenfalls nicht verlegenen jungen Leute in Diskussionsgruppen auf Facebook und in anderen Social Media längst unter „Rechtsversifftheit“ zusammenfassen. Der Begriff mag zu pauschal sein, zu salopp und überhaupt auch zu gehässig. „Wo antifaschistisch gehobelt wird, fallen sehr grobe Späne“, wie Markus Günther kürzlich in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung treffend schrieb. Doch das damit bezeichnete Problem ist real, und die „Achse“ hat es nicht für sich allein gepachtet. Es ist dabei nicht verwunderlich, dass es den Liberalismus trifft, denn dieser war schon immer ein Sammelbecken für rebellische, subversive Geister, die mit dem Mainstream nichts am Hut haben. Und die gibt es eben auch am rechten Rand. Diese Haltung von – auch jungen – Menschen, die sich selbst mitnichten als Reaktionäre bezeichnen, sondern als „wertkonservative Liberale“, gelegentlich auch als „nationalkonservative Liberale“, muss 2 allen Sorgen bereiten, die den Wert der Freiheit mit Zurückhaltung, Skepsis, Offenheit, Respekt und Menschenfreundlichkeit verbinden, „um andere in ihrer eigenen Weise glücklich werden zu lassen und an jener Toleranz konsequent festzuhalten, die ein wesentlicher Zug des Liberalismus ist“, wie Friedrich A. von Hayek in seinem Nachwort zur „Verfassung der Freiheit“ (1960) schrieb. Es gibt viele Zugänge zum Liberalismus und zahllose Interpretationen. Doch bei aller legitimen und spannenden Vielfalt gibt es auch eine essentielle Substanz, die man nicht aufgeben kann, ohne den Begriff zu verdrehen. Diese Substanz besteht darin, dass das Nachdenken über die Gestaltung des Miteinanders in der Gesellschaft vom Individuum ausgeht statt vom Kollektiv; dass die Menschen als gleich zu denken und folglich vom Staat auch gleich zu behandeln sind; dass niemand im Besitz der endgültigen Wahrheit ist. Der Individualismus ergibt sich aus der menschlichen Würde, in christlicher Tradition bedingt durch die Gottesebenbildlichkeit des Menschen – aller Menschen. Hier wurzelt das christliche Liebesgebot ebenso die liberale Pflicht, anderen Menschen mit Respekt zu begegnen; ihre Lebensweisen nicht nur zu dulden, sondern sie anzuerkennen und sein zu lassen; sie als individuelle Persönlichkeiten wahrzunehmen, nicht als Teil eines identitären Kollektivs. Wie sagt Lessings Nathan so unnachahmlich: „Wir haben beide / Uns unser Volk nicht auserlesen. Sind / Wir unser Volk? Was heisst denn Volk? Sind Christ und Jude eher Christ und Jude / Als Mensch!“ Den anderen annehmen und sein zu lassen, wie und was er ist und sein wird, ihn nicht zu bedrängen, ihm seine Überzeugung und seinen Lebensentwurf weder mittels staatlichen Zwangs zu verbieten oder zu erschweren noch ihm diese höchstpersönlich „austreiben“ zu wollen, ihn zu verunglimpfen und ihn für seinen Weg oder seine Meinung mit Häme und Spott zu versehen – all das macht eine freiheitliche Haltung aus. Diese tiefe, umfassende, fundamentale Menschenfreundlichkeit ist das eigentliche Wesen des Liberalismus; hierin liegt seine überzeitliche Attraktivität ebenso wie seine Überlegenheit nicht nur als Ideologie, sondern auch als moralisches System. In dieser Hinsicht hatte der Historiker Paul Nolte schon Recht, als er vor Jahren sinngemäss anmahnte, es sei Zeit, nicht immer nur reflexhaft gegen den Staat zu ätzen; es gelte dem Liberalismus auch einen lebensweltlichen Inhalt zu verleihen. Positive Freiheitsdefinitionen kommen dafür nicht in Frage – sehr wohl aber eine Rückbesinnung darauf, was eine liberale Haltung, eine liberale Moral ausmacht. An diesem Punkt kommen viele Liberale ins Straucheln. Ist Freiheit denn nicht nur die Abwesenheit von willkürlichem Zwang, der Liberalismus mithin nur ein politisches Projekt, das dem Einzelnen sein Verhalten nicht vorschreibt? Lässt der Liberalismus nicht eine Vielzahl von Werten zu? Beging nicht John Stuart Mill einen schweren Kategorienfehler, als er seinerzeit in „On Liberty“ (1859) sozialen Druck als Zwang bezeichnete? Ja, korrekt, aber all das hängt von der Frage ab, die man jeweils stellt. In der ordnungstheoretischen Perspektive ist das Verhältnis der Bürger zum Staat zu klären; hier fordert der Liberalismus schlicht Abwehrrechte des Individuums gegenüber dem Kollektiv. Der staatliche Zwang ist zu minimieren, und dazu muss er gemäss Hayek „durch bekannte allgemeine Regeln beschränkt“ sein. Spezifische individuelle Verhaltensregeln haben hier nichts zu suchen. In der individualethischen Perspektive hingegen geht es darum, wie sich eine Person gegenüber anderen Menschen verhalten soll. Der Liberalismus lässt hier alle möglichen Werte zu, solange sie nicht die Freiheit gefährden, in Anlehnung an Voltaires schönen Ausspruch: „Je ne partage pas vos idées, mais je suis prêt à mourir pour que vous puissiez les défendre“. Dass er sie zulässt, heisst aber nicht, dass er selber normativ neutral ist. Im Gegenteil: Liberalität bedeutet nicht nur, dass man sein Gegenüber zu nichts zwingt und auch die Mittel des Staats nicht dazu einsetzt. Es bedeutet auch, dass man die Persönlichkeit seines Mitmenschen respektiert und ihr Raum gewährt. 3 Genauso wenig wie in das materielle Eigentum eines anderen darf man ohne dessen Erlaubnis in seine Persönlichkeitssphäre vordringen. Man darf dem anderen eine ihm fremde Sicht der Dinge anbieten, sie ihm aber nicht aufdrängen. Wohlgemerkt geht es hier nicht um einen Anspruch auf die Unverletzlichkeit der eigenen moralischen Sphäre, ein solcher liesse sich weder gut begründen noch praktisch verteidigen. Doch die Ansprüche, die man an sein eigenes Verhalten stellt, sind davon völlig unabhängig. Eine liberale Haltung bedeutet den Verzicht auf Übergriffigkeit, schlicht aus Respekt. Dass Mills Zeitgenossen ihm mit Sticheleien und Ausgrenzung das Leben zur Hölle machten, bedeutet keinesfalls, dass der Staat die zugrundeliegenden sozialen Konventionen hätte unterbinden sollen. Der Liberalismus gebietet Respekt vor solchen gewachsenen Traditionen. Aber nichts führt an der Feststellung vorbei, dass ihre offen zur Schau getragene, spiessig-konservative Missbilligung von Mills Liaison mit Harriet Taylor den moralischen Ansprüchen des Liberalismus nicht entspricht. Ihnen selber wird das nichts ausgemacht haben – nicht jeder will schliesslich unbedingt liberal sein. In den siebziger Jahren hat Erhart Eppler den Begriff „Wertkonservatismus“ aufgebracht, mit Blick auf die Grünen mit ihrem Einsatz für die natürliche Umwelt, die Schöpfung, im Unterschied zum Strukturkonservatismus, in dem es um die Erhaltung alter Privilegien geht. Wertkonservatismus – das klingt in der Tat nach guter alter Zeit und heiler Welt, nach Ordnung und Harmonie, nach Gemütlichkeit, ein wenig auch nach den Schweizer Bergen. Unwillkürlich denkt man an Wilhelm Röpke (1899-1966), jenen liebenswerten Ökonomen, der an der Moderne litt und darüber selbst zum Reaktionär wurde, bitter, rückwärtsgewandt und fortschrittsfeindlich. Wo der Konservative stehen bleiben will, drängt es den Reaktionär zurück, nur der Liberale schreitet munter voran. Dass dieser Wertkonservatismus überhaupt je unter der Flagge des Liberalismus segeln konnte und es noch immer will, beruht allein auf dessen inhaltlicher Schwäche – genauer gesagt darauf, dass vor lauter Fixierung auf die negative Freiheit der eigene, positive Gehalt des Liberalismus in Vergessenheit geraten ist. Der Liberalismus ist moralisch nicht leer und normativ mithin auch nicht neutral. Dem „ängstlichen Misstrauen gegen das Neue“, mit dem übrigens auch „Feindseligkeit gegen den Internationalismus und seine Neigung zum betonten Nationalismus“ zusammenhänge, setzte Hayek „Mut und Zuversicht“ des liberalen Standpunkts entgegen, die „Bereitschaft, der Veränderung ihren Lauf zu lassen, auch wenn wir nicht voraussagen können, wohin sie führen wird“. Ängstliche Naturen mögen das als fahrlässig empfinden. Hayek indes war kein Hasardeur. Er zog die logische Konsequenz aus der Fehlbarkeit des Menschen, aus dem Mangel an Wissen. „Weil jeder Einzelne so wenig weiss (…), vertrauen wir darauf, dass die unabhängigen und wettbewerblichen Bemühungen vieler die Dinge hervorbringen, die wir wünschen werden, wenn wir sie sehen“. Wer sich trotzdem ins Idyll vergangener Tage zurückziehen will, mag das tun – aber bitte ohne die Mitmenschen zu behelligen. Ganz offensichtlich widerspricht die reaktionäre Haltung dem liberalen Denken, wenn sie den Staat zur Diskriminierung auffordert, beispielsweise auf dem Wege der immer noch üblichen steuerlichen Privilegierung von ehelichen Bindungen, zumal – via Ehegattensplitting – von Alleinverdienerehen. Man könnte sich die entwürdigende Debatte über die „Homo-Ehe“ sparen, wenn der Staat hier gar nicht erst seine Finger im Spiel hätte, wenn die Ehe schlicht das wäre, was romantische Seelen zum Glück noch immer in ihr sehen: ein privater Vertrag von Liebenden, die füreinander einstehen. Wo der Staat nicht hilft, das konservative Ideal zu verwirklichen, da beginnt indes die Pöbelei. Die Reaktionären von heute haben dramatisch schlechte Manieren. Wie am Stammtisch werden die Vorurteile gepflegt, dogmatisch zugespitzt und hasserfüllt herausposaunt. An üble Nachrede und Invektiven gegen Keynesianer und Sozialisten ist man gewöhnt, jetzt kommen noch Demokratie, 4 Feminismus, Pluralität, Homosexualität und Atheismus als Feindbilder dazu. Mit der AfD, gefeiert als „die bessere CDU“, wettert man gegen die „Multikulti-Umerziehung“. Man verbrüdert sich mit einem Thilo Sarrazin, nicht obwohl, sondern gerade weil dieser jene unsägliche Passage über die inferiore genetische Ausstattung von Türkenkindern in seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ stehen und sie in der zweiten Auflage mitnichten entschärft hat, zumal er sich von der Kritik daran zu einem weiteren Buch, „Der neue Tugendterror“ inspirieren liess. „Man wird ja wohl noch sagen dürfen“ ist das Geschäftsmodell, als ob es noch echte Redeverbote gäbe, abgesehen vom Straftatbestand der Volksverhetzung. Es muss herrlich sein, sich in dieser Weise gegenseitig hochzugeigen und sich in Vereinfachung, Dogmatismus, Demagogie, Intoleranz und Sektierertum zu aalen. Die Reaktionären fallen schon mit ihrer Sprache auf. Sie ist aggressiv, eifernd, anmassend, masslos und apodiktisch. Da ist eben vom „Tugendterror“ die Rede, vom „Gender-Wahn“, von der „Religion der Gleichheit“ und der „Lebensfeindlichkeit“ des Egalitarismus. Ihre Worte sind zündelnd, gehässig, ätzend. Dazu passen Aufrufe, „Widerstand“ zu leisten und die Gesellschaft im Stile von Al Qaida zu unterwandern. Diese Leute schreiben und sprechen mit Dauerschaum vor dem Maul, auch wenn sie nicht mehr zu den jugendlichen Heissspornen gehören, denen die „Enclave deliberation“ (Cass Sunstein) im Internet so manche Hemmungen abtrainiert. Auf begriffliche Schärfe, konzeptionelle Präzision und kluge Abwägung kann man lange warten. Da kann es dann schon einmal geschehen, dass das unschuldige Ideal der Chancengleichheit die „Sozialismuskeule“ übergebraten bekommt. Einen freiheitlichen Geist muss schon der Grad an Selbstsicherheit stören, mit dem solche Tiraden hervorgestossen werden. Viele komplexe Fragen der modernen Gesellschaft erlauben gar kein schnelles Ja oder Nein, Richtig oder Falsch, Schwarz oder Weiss. Häufig erschliesst sich die Natur eines Problems erst in der Nuance und gilt es auch zu seiner liberalen Lösung eine schwierige Balance zu finden, bei der sich die Akzente durchaus unterschiedlich setzen lassen. Wer sorgsames Wägen als memmenhaft abtun zu können glaubt, strebt nicht nach Erkenntnis, sondern masst sich an, schon alles zu wissen. Weil aber alle Erkenntnis nur vorläufig ist, wie Karl Popper lehrte, gilt es sich vor abschliessenden, gesprächsabschneidenden Urteilen zu hüten. Man tut gut daran, die eigene Position immer wieder überprüfen und den Zweifel zu pflegen. So fällt es dann auch leicht, sich gegenüber anderen Menschen und Meinungen tolerant zu zeigen – tolerant nicht etwa in jenem sauertöpfischen Sinn, dass man zähneknirschend duldet und herablassend gewähren lässt, was man im Grunde für irrelevant hält oder verurteilt. Sondern tolerant in jenem anerkennenden Sinn, dass man abweichende Überlegungen als intellektuelle Konkurrenz ernst nimmt und sie nicht daraufhin prüft, wie man sie am besten abschmettern kann, sondern daraufhin, was ihnen abzugewinnen ist. Der Liberalismus kommt aktuell an einen Punkt, an dem sich sein Schicksal entscheiden wird. Wenn es nicht gelingen sollte, sich von den Reaktionären zu befreien und zu intellektueller Ernsthaftigkeit, Anstand und Demut zurückzukehren; wenn es nicht gelingen sollte, der liberalen Ethik von Offenheit und Toleranz den ihr gebührenden Raum zu schaffen – dann verliert der Liberalismus seine Seele.
Karen Horn lehrt ökonomische Ideengeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin und ist Vorsitzende der Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft
Quelle: http://karenhorn.de/Profil/Kontakt/Impressum
Dieser Artikel gibt im wesentlichen wieder, was unter dem (wegen Löschung) nicht mehr funktionierenden link in 1215 zu finden war...
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