Leitartikel: Danke, Rot-Grün
Wer Empfehlungen ausspricht, sollte sich im Nachhinein auch daran messen lassen. Im Fall der Position, die die Financial Times Deutschland zur Bundestagswahl 2002 bezogen hat, ist das nicht einfach.
Wir hatten uns seinerzeit gegen eine zweite Amtszeit der Regierung Schröder ausgesprochen. Längst ist jedoch klar, dass die rot-grünen Wahlaussagen von damals kaum etwas mit der tatsächlichen Politik der im Herbst 2002 wieder gewählten Koalition zu tun haben. Den Kanzler und seine SPD hat dieser Widerspruch - vor allem nach Gerhard Schröders Agenda-2010-Rede Anfang vergangenen Jahres - in eine existenzielle Zerreißprobe geführt.
Zur Halbzeit der Legislaturperiode, nach Abschluss des diesjährigen Marathons von 14 Wahlen und nach dem recht unspektakulären Ende der spektakulären Anti-Hartz-Proteste auf den Straßen ist es dennoch Zeit, eine Zwischenbilanz zu ziehen. Klar ist: Es steht weiterhin nicht gut um die deutsche Wirtschaft. Die Arbeitslosigkeit steigt, das gute Exportgeschäft hat der Konjunktur zwar wieder etwas Schwung verliehen, aber die deutsche Binnenwirtschaft liegt immer noch am Boden. Mehr als das Prinzip Hoffnung hat die Bundesregierung für einen Aufschwung nicht anzubieten.
Lange Liste ungelöster Probleme
Nolens volens hat Finanzminister Hans Eichel seinen kontraproduktiven Versuch gestoppt, mitten in der Flaute den Etat zu sanieren. Eine makroökonomische Strategie lässt sich aber selbst mit sehr viel gutem Willen allenfalls erahnen. Und die Liste der ungelösten Probleme - in den Sozialversicherungen, bei den Steuern, am Arbeitsmarkt - ist weiterhin lang.
Allerdings, und das wird im allgemeinen Wehklagen gerne übersehen: Es ist auch viel in Bewegung geraten. Bundespräsident Horst Köhler, der selbst alles tut, damit der Schwung erhalten bleibt, hat am Sonntag zu Recht auf diese Tatsache hingewiesen. Die Bewegung gibt es in der Gesetzgebung - siehe Rentenreform oder Reform der Handwerksordnung, Minijobs oder Hartz IV. Es gibt sie in den lange heruntergewirtschafteten öffentlichen Institutionen - siehe Arbeitsverwaltung oder Bildungssystem. Und, was am allerwichtigsten ist: Es gibt sie in den Köpfen, bei den politischen Entscheidern ebenso wie bei den Bürgern. So zeigt eine Umfrage des Instituts Ipsos für die FTD, dass eine wachsende Zahl von Menschen den Reformkurs mitträgt.
Streit über das Wie, nicht das Ob
Das alte Wort von der deutschen "Mikadogesellschaft" - wer sich bewegt, hat schon verloren - gilt im Jahre eins nach Gerhard Schröders Agenda 2010 jedenfalls nicht mehr. Heftig gestritten wird heute nicht über das Ob, sondern nur noch über das Wie der Reformen. Von links bis rechts lautet die Devise: Deutschlands ökonomische Gasse ist viel zu eng geworden, als dass eine Wende rückwärts jetzt noch möglich wäre. Der gesellschaftliche "Point of no Return" für den Umbau des Landes ist überschritten. Ob das die Absicht der Regierenden gewesen ist oder ob sie Getriebene der teils selbst geschaffenen Verhältnisse waren, sei dahingestellt. Über das Ergebnis lässt sich durchaus sagen: Danke, Rot-Grün!
Der heftige Streit um die Hartz-IV-Reform, in den die Regierung erkennbar absichtslos und unvorbereitet hineinstolperte, markiert gleich in doppelter Hinsicht eine Zäsur. Zum einen hat sich politisch ein Ergebnis eingestellt, das vermeintliche Wahlkampfweisheiten auf den Kopf stellt: Standfestigkeit zahlt sich für Reformer offenbar aus.
Zugleich hat die Hartz-Debatte aber dafür gesorgt, dass sich das Land nun klar auf einen sozialpolitischen Paradigmenwechsel einstellt. Der Staat kann in Zukunft nicht mehr dafür sorgen, dass jedem Bürger sein einmal erreichter Lebensstandard weitgehend garantiert wird. Eigene Initiative und Vorsorge sind unverzichtbar.
Die Sozialpolitik der Zukunft kann - und sollte - nur noch gewährleisten, dass diejenigen unterstützt werden, die sich aus eigener Kraft nicht helfen können. Und sie muss dafür sorgen, dass für alle Bürger Rahmenbedingungen geschaffen werden, die es ihnen erlauben, möglichst eigenständig zu leben und Erfolg zu haben. Künftige Politik in Deutschland, egal wer sie verantwortet, kann auf einem entscheidenden Mentalitätswechsel aufbauen: Immer weniger Menschen erwarten, dass der Staat ihnen die sozialen Risiken abnimmt.
Scheckbuchpolitik ist diskreditiert
Quer durch die Politikbereiche ist inzwischen unbestritten, dass der deutsche Staat seine einst großzügig eingegangenen Verpflichtungen nicht mehr erfüllen kann und deshalb neue Strukturen notwendig sind. Die seit Jahrzehnten in der Bundesrepublik eingeübte Praxis, Probleme aller Art mit einem Schwung frischen Geldes zuzukleistern, ist parteiübergreifend diskreditiert - von der Subventionspolitik über die Regionalförderung bis zur Außenpolitik, die noch in der Ära Helmut Kohl bevorzugt mit dem Scheckbuch operierte.
Der Bruch mit diesen alten Politikgewohnheiten hat zweifellos auch zu einer starken Verunsicherung der Bürger geführt. Das war zu einem großen Teil die Folge der völlig unvorbereiteten Schwenks von Rot-Grün nach der Bundestagswahl. Dazu beigetragen hat aber auch der Duktus, in dem die Reformdebatte weitergeführt wird. Und zwar von Regierung und Opposition gleichermaßen.
Weil so viele Aufgaben noch nicht abgearbeitet sind, steht die Kluft zwischen den Umbauzielen und der aktuellen Lage stets im Mittelpunkt: Das Glas ist nicht einmal halb gefüllt, so wird gewarnt und geschimpft, gejammert und Alarm geschlagen. Sorgt sich gelegentlich einmal jemand um die Stimmung, dann versucht er zu beweisen, dass der Wasserstand eigentlich doch noch zwei Drittel betrage: "Wir jammern auf hohem Niveau."
Beides ist falsch. Entscheidend für alle Akteure ist weniger der - wie auch immer bewertete - Pegelstand, sondern die Frage, ob die Dynamik stimmt: Füllt sich das Glas, oder verdunstet sein Inhalt? Und in welchem Tempo geschieht dies?
In den USA ist die Frage, ob das Land sich in die richtige Richtung bewegt, eine der Schlüsselfragen, die Wahlforscher an die Bürger stellen. Diese Frage wird auch die FTD immer wieder stellen. Nach unserer Einschätzung lässt sich an vielen Beispielen zeigen, dass Deutschland auf einem richtigen Reformweg ist. Das garantiert keinen schnellen Aufschwung und ist kein Grund zur Selbstzufriedenheit. Aber fest steht: Das neue Deutschland ist nicht mehr aufzuhalten.
© 2004 Financial Times Deutschland
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