17. Juni - "Und dann schossen sie doch"
Volksaufstand: Heute vor 50 Jahren führte Herbert Buley 500 Kollegen in den Kampf gegen das SED-Regime. Bis zuletzt war er überzeugt, dass nichts passieren würde . . .
Von Matthias Gretzschel
Berlin - Eine Menschenmenge auf dem Alexanderplatz skandiert "Berliner, reiht euch ein! Wir wollen freie Menschen sein". Manche halten Plakate hoch: Senkung der Arbeitsnormen! Freie Wahlen! Rücktritt der Regierung! Plötzlich fallen Schüsse. Menschen stürzen zu Boden, bleiben reglos liegen. Währenddessen dröhnt aus Lautsprechern eine Ton-Collage über die Niederschlagung des Volksaufstandes in der DDR vom 17. Juni 1953.
Herbert Buley steht etwas abseits. Der 76-Jährige mit dem schütteren weißen Haar beobachtet die Schauspielschüler, die an diesem sonnigen Juni-Tag des Jahres 2003 das nachspielen, was er vor 50 Jahren erlebt und ihnen in den vergangenen Monaten aus seiner Erinnerung berichtet hat. Aber lässt sich das, was er jetzt sieht, überhaupt mit dem in Einklang bringen, was er damals durchlitten hat? "Der Aufstand kehrt zurück" heißt das Projekt, in dem Studenten der Berliner Schauspielschule Reduta an authentischen Orten Szenen des Volksaufstandes nachspielen. In jenem Frühsommer 1953 war Herbert Buley 26 Jahre alt. Die Lehre zum Flugzeugmotorenschlosser hatte er nicht beenden können, weil er schon als 16-Jähriger in den Krieg musste. Aus der Gefangenschaft entlassen, trat er mit großen Hoffnungen in die KPD ein und begann eine Laufbahn in der Berliner Wasserstraßenverwaltung. Doch früher als viele andere erkannte er, dass es den Kommunisten nur um die Macht ging und nicht um das Wohl der Arbeiter. Schon 1947 warf er das Parteibuch hin - und wurde prompt entlassen. Seit 1951 war er Maschinenarbeiter im Kabelwerk Köpenick.
Als Buley am Dienstag, den 17. Juni 1953, kurz vor sechs Uhr die Werkhalle betrat, berichtete ihm sein Maschinenführer, dass die Kollegen streiken wollten. Gewundert hat ihn das nicht, denn seit die SED eine zehnprozentige Erhöhung der Arbeitsnormen und damit eine drastische Reallohnkürzung beschlossen hatte, gärte es in den Betrieben. "Du musst unser Streikleiter werden, du kannst das", bedrängte ihn der Maschinenführer. Konnte er es wirklich? Und wollte er es überhaupt? Punkt 7 Uhr kletterte er auf das Führerhaus eines Lkw. Da standen 500 Arbeiter vor ihm, blickten erwartungsvoll zu ihm hinauf, und er musste zu ihnen sprechen. "Wir fordern die Rücknahme der Normerhöhungen, die Senkung der Preise in den (staatlichen) HO-Läden um 40 Prozent, freie und geheime Wahlen und den Rücktritt der Regierung."
War das nicht ein bisschen viel auf einmal? Buley schüttelt den Kopf: "Aus dem RIAS wusste ich ja, dass es auch den Arbeitern von der Stalinallee nicht mehr nur um die Rücknahme der Normen, sondern um den Rücktritt der Regierung ging. Die Kommunisten hatten allen Kredit verspielt." Buley forderte seine Kollegen auf, sich anderen Demonstranten anzuschließen und in Richtung Innenstadt zu marschieren. Die Stimmung war gut, niemand hatte Angst, schließlich waren es viele, und es wurden immer mehr: die Volksmassen, die doch - wie die Kommunisten immer behaupteten - die Macht ausüben sollten. "Ich selbst habe nicht im Geringsten daran gedacht, dass da irgendetwas schief gehen könnte", erinnert sich der Streikführer. Um 7.30 Uhr marschierte die Belegschaft des Kabelwerkes los und schloss sich den Demonstrationszügen der anderen Köpenicker Betriebe an, die schon auf dem Weg zum Ostberliner Zentrum, zum Haus der Ministerien, waren. An der Spitze liefen oft SED-Genossen, die ihre Parteiabzeichen schon abgerissen hatten.
Gegen 9.30 Uhr tauchten an der Wuhlheide die ersten russischen T34-Panzer auf. "Trotzdem habe ich da noch nicht begriffen, was eigentlich gespielt wird. Die Soldaten haben gewinkt, und ich wäre nicht im Traum auf die Idee gekommen, dass sie bald auf uns schießen würden." In Rummelsburg konnte Buley seine Kollegen gerade noch davon abhalten, das Gefängnis zu stürmen. "Das hätte unnötiges Blutvergießen gegeben. Ich war mir sicher, dass die politischen Gefangenen sowieso bald entlassen würden."
Als Buley gegen 13 Uhr wieder im Betrieb eintraf, erfuhr er über den Rundfunk von der Ausrufung des Ausnahmezustandes. Dass von Sowjets und Vopos bereits geschossen wurde, konnten er und seine Kollegen indes nicht wissen. Für sie stand zu diesem Zeitpunkt fest, dass der Streik fortgesetzt werden würde. Buley ging nach Hause. Erst dort erfuhr er aus dem RIAS vom Eingreifen der Sowjetarmee und den Schüssen auf die Demonstranten.
Am nächsten Morgen, halb sechs, stand er an der Straßenbahnhaltestelle, um die Kollegen an den Streik zu erinnern. "Geht wieder nach Hause, die Verkehrsbetriebe streiken doch auch, noch ist nichts verloren", sagte er den Arbeitern, von denen tatsächlich viele wieder kehrtmachten. Doch kurz darauf begannen die Verkehrsbetriebe wieder zu arbeiten. "Als die erste Straßenbahn kam, wurde mir klar, dass wir verloren hatten", erinnert sich Buley. Als er nach Hause zurückkehrte, wartete dort schon der Chauffeur seines Direktors, der ihn in den Betrieb bringen sollte. Schon auf der Rampe wurde Buley von russischen Soldaten, Volkspolizisten, Stasi-Offizieren und der Betriebsleitung empfangen. Sie verlangten, er solle der Belegschaft das Ende des Streiks mitteilen. Es blieb ihm nichts anderes übrig.
Nach Schichtende durfte er nach Hause gehen, zu seiner Frau und dem wenige Monate alten Sohn. Als er gegen 22 Uhr aus dem Fenster blickte, sah er, dass sein Haus von Bewaffneten umstellt war. Sie drangen vom Garten her ein, brachen die Verandatür auf und verhafteten ihn in der Küche. Er bat inständig: "Ich will meinen kleinen Sohn noch einmal sehen, vielleicht ist es das letzte Mal. Bei Hitler wurde man auch auf der Flucht erschossen." Doch der Stasi-Offizier legte ihm Handschellen an.
In Friedrichsfelde kam er mit 350 anderen in ein Gefangenenlager, bevor er am 19. Juni im Stasi-Knast Hohenschönhausen erstmals verhört wurde. "Ich wurde zur Begrüßung von zwei jungen Stasi-Leuten ins Gesicht geschlagen und mit dem Kopf gegen die Tür gestoßen", schildert Buley den Beginn seines Leidenswegs. Bis zum 2. Juli verhörte die Stasi ihn jede Nacht, um ihn dann überraschend zu entlassen.
Freunde rieten ihm dringend, mit seiner Familie schleunigst in den Westen zu fliehen - er hätte damals nur die S-Bahn nehmen müssen. Aber Buley blieb. "Wenn alle abhauen, haben die Kommunisten noch leichteres Spiel", meinte er. Am 19. September stand die Stasi wieder vor der Tür und brachte ihn ins Untersuchungsgefängnis Rummelsburg - genau in den Knast, dessen Erstürmung er am 17. Juni verhindert hatte. Im Mai 1954 wurde er zum Hauptangeklagten eines Schauprozesses. Das Urteil: vier Jahre Haft. Nach drei Jahren wurde Herbert Buley vorzeitig entlassen, physisch und psychisch schwer gezeichnet. Nun hielt ihn nichts mehr in der DDR. Wenige Tage nach seiner Entlassung ging er nach Westberlin, wo er später den Arbeitskreis 17. Juni mitbegründete.
Herbert Buley ist sein Berufsleben lang Arbeiter geblieben. Bis zur Rente war im kaufmännischen Bereich in verschiedenen Berliner Firmen beschäftigt. Unzählige Male hat er in den letzten 50 Jahren an den Volksaufstand erinnert und oft erleben müssen, dass ihm niemand zuhören wollte. Dass der 17. Juni als Feiertag 1990 zu Gunsten des 3. Oktober abgeschafft wurde, schmerzt ihn noch heute. "Wir haben doch damals das begonnen, was den Demonstranten von 1989 gelungen ist", sagt er und sieht zu den Schauspielstudenten hinüber, die gerade ihre Transparente einrollen. Hatte er ihnen seine Geschichte wirklich verständlich machen können? Er zuckt mit den Schultern.
Und würde er aus heutiger Sicht etwas anders machen als an jenem 17. Juni vor 50 Jahren? "Ich bereue nichts", sagt Herbert Buley. "Die Zeit hat es damals nicht gut mit uns gemeint, aber ich würde es wieder so machen. Genauso wie damals."
erschienen am 17. Jun 2003 in Politik
|