"Ideologische Wahnwelt"
In der vergangenen Ausgabe druckte die "Welt am Sonntag" Auszüge aus Ifo-Chef Hans-Werner Sinns neuem Buch "Die Basar-Ökonomie". Im folgenden dokumentieren wir einen Teil der Reaktionen unserer Leser von Ulrich Machold
Die Lohnkosten sind in Deutschland lediglich ein Steinchen im Problem-Mosaik. Dennoch teile ich die Meinung des Buchautors grundsätzlich, daß sie, gemessen an der Produktivität, insgesamt viel zu hoch sind. Deutschland ist mittlerweile schon seit Jahrzehnten wohlfahrtsfett, und die Einheit hat viele strukturelle Defizite nur noch offensichtlicher gemacht. Wenn wir nicht begreifen, daß wir mit geringqualifizierter Arbeit en masse keine Blumentöpfe mehr im weltweit umkämpften Markt der Kosten gewinnen können, dann gehen in Deutschland sowieso bald die Lichter aus. Der vielbeschworene Sozialstaat ist die Wurzel allen Übels. Mit seiner Umverteilungsbürokratie verschlingt er nicht nur Milliarden, er schreckt auch willige Investoren ab. Meines Erachtens bleibt Deutschland nur noch das Schicksal eines Kranken: Erst nach dem Kollaps geht er zum Arzt und pflegt sich anschließend gesund. Es ist nur zu hoffen, daß der Mediziner im Falle Deutschlands kein linker oder rechter Rattenfänger ist.
Udo Sonnenberg, Berlin
Herrn Professor Sinn ist uneingeschränkt zuzustimmen! Als Praktiker, gelernter Maschinenschlosser, graduierter Maschinenbauingenieur, diplomierter Wirtschaftsingenieur, war ich in den letzten 40 Jahren in fünf Firmen als Fertigungsingenieur, Abteilungsleiter Arbeitsvorbereitung, Produktionsplanung und -steuerung, Controlling etc. tätig. Bei keinem Vorstellungsgespräch, bei keiner Arbeitsvertragsverhandlung kam der Begriff "Produktionsverlagerung ins Ausland" vor. Doch gerade dies war meine wesentliche Tätigkeit in den vergangenen vier Jahrzehnten. Vor kurzem habe ich meine Berufstätigkeit mit der Verlagerung von 1000 Arbeitsplätzen aus dem Rhein-Main-Gebiet nach Irland, England und Holland abgeschlossen. Mitte der 1960er Jahre war ich als junger Fertigungsingenieur im Raum Stuttgart in einem Zulieferbetrieb der Autoindustrie mit 3500 Mitarbeitern beschäftigt. Da Daimler-Benz für "ungelernte Tätigkeit" 20 bis 30 Prozent mehr Lohn bezahlte, als wir es uns leisten konnten, war meine überwiegende Tätigkeit: Aufbau von Subunternehmern in strukturschwachen Gebieten Süddeutschlands, Aufbau eines Zweigunternehmens in Österreich und eines Joint Venture in Ungarn. Um es nochmals deutlich zu sagen: Dies war vor 1970.
Werner Völkl, Dietzenbach
Professor Sinn beschreibt nur einen Teil der ökonomischen Realität in Deutschland, nämlich die Tariflöhne. In vielen Firmen und Regionen (vor allem in Ostdeutschland) wird aber deutlich unter Tarif gezahlt, und in vielen kleinen und mittleren Betrieben hat es (in ganz Deutschland) in den letzten Jahren sogar nominale Lohnsenkungen gegeben. Weiterhin gibt es viele Arbeitnehmer wie Praktikanten, die sehr wenig oder gar keinen Lohn erhalten. Mehr Flexibilität ist kaum zu leisten.
Jürgen Drzymalla, Leverkusen
Laut dem arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft betragen die Arbeitskosten je Arbeiterstunde im verarbeitenden Gewerbe in Polen 3,29 Euro und in Deutschland 26,32 Euro. Trotzdem nahm im Zeitraum 1998 bis 2003 die Anzahl der Erwerbstätigen in Polen um 1,8 Millionen ab, während sie in Deutschland um 0,8 Millionen zunahm. Die Arbeitslosenquote stieg in Polen von 10,2 auf 19,2 Prozent und in Deutschland von 9,1 auf 9,6 Prozent. Die Erwerbstätigenquote sank in Polen von 39,8 auf 35,6 Prozent, und in Deutschland stieg sie von 46,1 auf 46,8 Prozent. Ein Zusammenhang zwischen Arbeitskosten und der Arbeitslosenquote existiert nur in der ideologischen Wahnwelt von Marktfundamentalisten - in der Realität gibt es einen solchen Zusammenhang nicht! Dänemark hat weltweit die höchsten Arbeitskosten und eine geringe Arbeitslosenquote. Obwohl laut Institut der deutschen Wirtschaft die Arbeitskosten je Arbeiterstunde im verarbeitenden Gewerbe im Jahr 2004 in Ostdeutschland 17,15 Euro und in den Niederlanden 23,74 Euro betrugen, ist die Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland um ein Mehrfaches höher als in den Niederlanden. Das Institut der deutschen Wirtschaft, das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und das Statistische Bundesamt haben die Basar-Ökonomie-These von Professor (Un-)Sinn längst widerlegt. Die exportinduzierte Bruttowertschöpfung stieg im Zeitraum 1995 bis 2002 von 16,2 auf 20,8 Prozent.
Jürgen Heidmann, Hamburg
Für Sinn ist es vielleicht zu trivial, daß die Wertschöpfung pro Arbeitnehmer in zwei Teile aufgeteilt wird: einerseits den Lohn, andererseits die Kapitalrendite in ihren diversen Formen. Was bedeutet also, als Arbeitnehmer "zu teuer" zu sein? Eine naheliegende Interpretation wäre "teurer als früher". So ist es aber nicht. Die Lohnquote, die den Anteil des Lohns an der Wertschöpfung beschreibt, ist nicht gestiegen, sondern gesunken.
Es ist keine Klassenkampf-Parole, sondern eine nüchterne und triviale Feststellung, daß dadurch der Anteil der Kapitalrendite nur gestiegen sein kann, da es nur diese zwei Anteile gibt. Und hier liegt des Pudels Kern: Das internationale Kapital hätte einfach gern einen größeren Anteil, als früher üblich war, zum Beispiel statt der in Deutschland in der Nachkriegszeit üblichen rund 30 Prozent einen Anteil von 44 Prozent wie im "Tigerstaat" Irland. Das Wort "wettbewerbsfähige Löhne" bezeichnet in diesem Zusammenhang nur noch die Bereitschaft, als Arbeitnehmer von einem immer kleineren Teil des volkswirtschaftlichen Kuchens zu leben. Es gibt hier keine "natürliche Grenze". Wenn man die Globalisierung als Naturphänomen auffaßt, dem man sich unterordnen soll, ist an der Position von Herrn Sinn natürlich nichts auszusetzen. Die Globalisierung ist aber nicht über uns hergefallen, sondern wurde von unserer Politik zielstrebig herbeigeführt. Und genauso steht es uns frei, diesem System zielstrebig entgegenzuwirken, auch wenn der Weg nicht kurz und nicht leicht ist.
Tomas Hrycej, Ulm
Hans-Werner Sinn hat recht mit seiner Behauptung. Doch Sinns Weisheit ist die Weisheit eines Einäugigen. Sinn ist genauso dogmatisch in seiner Partialsicht wie Lafontaine. Man darf nicht nur eine Seite der Medaille betrachten. Angebot und Nachfrage gehören untrennbar zusammen. Löhne sind immer gleichzeitig Kosten und Einkommen. Niedrige Kosten = niedrige Einkommen. Hohe Einkommen = hohe Kosten. Hier gilt es, sich durchzuhangeln. Pragmatiker wissen das, Patentlösungen sind hingegen typisch deutsch. Der Begriff "Basar-Ökonomie" ist unglücklich und falsch. Was hierzulande stattfindet, ist vielmehr das Modell der Zukunft. Lohnintensive Vorproduktion - ab ins Ausland! Das machen uns zudem alle erfolgreichen Länder vor. Und wo will Herr Sinn eigentlich hin? Wir sind schon jetzt der größte Exporteur der Welt. Bei weiteren Lohnkürzungen überfluten wir die Welt mit unseren Gütern.
Dr. Bernd Niquet, Berlin
Hohe Lohnkosten, daraus resultierender Arbeitsplatzabbau und fehlende Investitionsbereitschaft sind vordergründig die zentralen Probleme Deutschlands. Als Hintergrund haben sie aber die Unfähigkeit der Regierungen, dem Bürger in klar verständlicher Form zu erklären, daß wir seit Jahren über unsere Verhältnisse leben. Und daher nicht erwarten können, mit den Sozialgesetzen des vorvorigen Jahrhunderts und dazugehörigem Besitzstanddenken ein positives Umfeld für Investitionsbereitschaft und damit für unsere Zukunft zu schaffen. Insofern ist gesamthaftes Handeln eingefordert: große Föderalismusreform mit Wahlgesetzreformen in Bund und Ländern, Steuerreform und Sozialreformen.
Dr. Dirk Detlef
Das zentrale Problem sind also die deutschen Lohnkosten! Mit Niedriglohnländern wolle man zwar auf keinem Fall konkurrieren, aber die Löhne müssen trotzdem erst mal runter. Was auch immer das heißen mag, daß es sich auch hier um eine extrem verkürzte Darstellung der Problematik handelt, bedarf keiner weiteren Begründung. Ich gebe zu, als Laie vermag ich die Zusammenhänge bestimmt nicht so gut zu verstehen wie ein Nationalökonom. Anderseits, und das sagt mir mein gesunder Hausverstand, werden die billigen Scheinargumente der Wirtschaftslobby auch dann nicht wahrer, wenn sie im gespreiztem Terminus von Wissenschaftlern präsentiert werden.
Marius Mager, Frankfurt/Main
Vor dem Hintergrund einer abwechslungs- und lehrreichen 40jährigen Berufstätigkeit (u. a.: Wirtschaftsforscher, Unternehmensberater, Leiter des Planungsstabs im Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft, Unternehmer) wurde mein armes Hirn von einer Sturzflut an Einwänden gegen die Position von Herrn Sinn überflutet. Aus dieser Flut möchte ich folgende persönliche Erfahrungen zur Diskussion stellen: In einem meiner letzten Projekte ging es darum, für einen führenden Werkzeugmaschinenhersteller mit Sitz in Deutschland die gußeisernen Maschinenrohlinge sehr preiswert aus Tschechien und aus Polen zu beziehen. Sie werden in Deutschland "veredelt", das heißt zu Maschinen mit viel Feinmechanik, Elektronik und "Made in Germany"-Label fertiggestellt. Bei den Rohlingen beträgt der Kostenvorteil gegenüber einem einheimischen Guß mindestens 50 Prozent.
Vor etlichen Jahren habe ich auch geholfen, eine Eisengießerei in Deutschland zu liquidieren. Sie hatte keine Zukunft: zu hohe Löhne, zu kostenträchtige Auflagen des Umweltschutzes.
Nun frage ich Herrn Sinn und alle, die die These von den zu hohen Löhnen in Deutschland vertreten: Ist ein Weg zurück (niedrigere Löhne, geringerer Umweltschutz, Wiederaufbau einer Niedriglohn-Vorprodukte-Industrie mit Un- und Angelernten) nicht reine Utopie? Eine rhetorische Frage! Denn tatsächlich hängt Herr Sinn einer nicht mehr wiederzubelebenden Vergangenheit an; statt sich mit einer realistischen Zukunft zu beschäftigen. Meine Doktorarbeit (1969) hieß: "Wirtschaftswachstum durch Ausbildung und Forschung" - und das ist auch heute noch richtig.
Dr. Dirk Beckerhoff
Natürlich sind die hohen Lohnnebenkosten das zentrale Problem Deutschlands. Die deutschen Arbeitnehmer sind nicht mehr wettbewerbsfähig. Deutschen Tugenden, die früher galten, wie Pünktlichkeit, Fleiß, Genauigkeit haben sich in den letzten 20 Jahren verflüchtigt. Unsere Nachbarstaaten haben aufgeholt und können von der Bildung und dem Know-how mit uns mithalten.
Sie haben allerdings den Vorteil, daß ihr Lebensstandard viel niedriger ist als der von uns. Sie sind fleißig und sehr motiviert, da sie sich etwas aufbauen können. Unsere künftigen Generationen müssen mit viel weniger auskommen und Bescheidenheit üben. Nur wenn wir die hohen Lohnnebenkosten senken, können wir für die Zukunft neue Arbeitsplätze schaffen. Um die Nebenkosten zu senken, muß unser Sozialstaat radikal umgebaut werden.
Birgit Götz per E-Mail
Die hohen Lohnkosten sind ein wesentlicher Teil der gesamten Personalkosten. Allerdings bleibt auch dies nur Stückwerk, wenn die Personalkosten beeinflussende Faktoren, wie zum Beispiel das Arbeits- und Tarifrecht, nicht auf ein vertretbares Maß reduziert werden. Und da hört bei den Politikern, denen das persönliche Wohl (wie derzeitig beim Kanzlergezerre) vor dem des Staates geht, jedes Verständnis auf. Denn sie wollen von einer Wählerschaft wiedergewählt werden, die vorsätzlich nicht über wirtschaftliche Zusammenhänge aufgeklärt wird. Diese Erkenntnis gilt sicherlich leider auch für viele ideologisch ausgerichtete Politiker. So wird es auch in einer großen Koalition unter den derzeitigen Verhältnissen wirtschaftlich weiter abwärtsgehen, zumal auch die CDU nun wieder das "Soziale" pflegen will. Die Ausführungen von Professor Sinn sind daher voll zutreffend.
K. Wollers per E-Mail
Was bedeuten schon 27,60 Euro Arbeitskosten je Stunde? Was bedeutet dieser Lohn netto für den Arbeitnehmer? Ich kenne Leute, die arbeiten den ganzen Tag und bringen trotzdem nur 1300 Euro netto nach Hause. Man kann nicht nur das verarbeitende Gewerbe als Maßstab nehmen. Wie viele Menschen müssen für zwölf bis 15 Euro brutto arbeiten? Der Autor spricht darüber, daß deutsche Löhne nicht mehr "marktgerecht" seien. Was will er damit sagen? Warum nicht gleich ehrlich sein und sagen, daß die Löhne runter müßten! Aber dann müßte so ein kluger Autor auch sagen, wie der Durchschnittsarbeitnehmer seine Miete, sein Essen, die Autoreparatur, die neue Waschmaschine und die Klassenfahrten der Kinder bezahlen soll. Es ist ja nicht anzunehmen, daß der Vermieter auch mit der Miete runtergeht oder das Benzin billiger wird. Länder mit geringeren Arbeitskosten, wie Italien und Frankreich, haben ebenfalls eine hohe Arbeitslosigkeit, dafür haben Norwegen, Dänemark und die Schweiz mit ähnlich hohen Lohnkosten weniger Arbeitslosigkeit. Da muß es doch noch andere Erklärungen geben.
Herbert Plattner, Petershagen
Hier wird platte Ideologie betrieben. Wenn letztlich nur die Löhne und Steuern als standortrelevant anzusehen wären, dann würden alle Unternehmen in Afrika investieren. Dort gibt es keine Steuern, und die Lohnkosten betragen maximal zehn Cent pro Stunde. Einen guten Standort machen dagegen viele Punkte aus: Infrastruktur, Bildung, Sicherheit, Kultur, Lage - um nur einige zu nennen. Und noch einen Standortfaktor will ich nicht vergessen, der es Hans-Werner Sinn erst gestattet, seine Kampfschrift zu veröffentlichen: die Meinungsfreiheit.
Manfred Stoelting -Lesen Sie weitere Briefe unter:
Artikel erschienen am 16. Oktober 2005 WAMS.de 1995 - 2005 http://www.wams.de/data/2005/10/16/789523.html?s=4
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