Sommer in Italien - Fußball, Korruption und die italienische Gesellschaft
Auf den ersten Blick ist es wie jeden Sommer in Italien: Sonne, Strand und Dolce Vita, noch ein Campari, noch ein Sprung ins kühlende Meer. Doch während die meisten Italiener derzeit Ferien machen und viele noch siegestrunken und ausgelassen den überraschenden WM-Sieg vor drei Wochen feiern, erreichte vergangene Woche der italienische Fußballskandal neue ungeahnte Gipfelpunkte. Dabei ist er nur der repräsentativste einer ganzen Kette von Korruptionsaffären und Unsauberkeiten, offenen Manipulationen und kaum versteckten Betrügereien, die derzeit die italienische Gesellschaft erschüttern. Von wegen drakonische Strafen. Genau eine Woche hat es gedauert, dann war alles vergeben und vergessen. Hatte man eben noch nach dem Nachweis diverser Manipulationen die gesamte Saison die Saison 2004/05 für "strukturell illegal" erklärt, 25 Funktionäre, Schiedsrichter, Vereinspräsidenten mit langen Sperren belegt, mit Juventus Turin, Lazio Rom und dem AC Florenz drei prominente Erstligaclubs in die zweite Liga zwangsversetzt und dort mit derart empfindlichen Punktabzügen belegt, dass an einen direkten Wiederaufstieg kaum zu denken war, und dem Berlusconi-Club AC Mailand die Champions League-Qualifikation versagt, soll nun alles doch nicht so schlimm gewesen sein. Ein Berufungsgericht korrigierte die Strafen deutlich nach unten. "Das macht doch nichts, es merkt ja keiner." Nun, ein paar hatten es doch gemerkt, also musste man den Dreck etwas umständlicher wieder unter den Teppich kehren, ohne zuviel Stab aufzuwirbeln.
Ein Sumpf aus Korruption war da aufgedeckt worden, eine Fußball-Mafia alttestamentarischen Ausmaßes hatte jahrelang ihr Unwesen getrieben. In Italien klagte man die Drahtzieher nicht allein des Sportbetrugs an, sondern der "Gründung einer kriminellen Vereinigung, Veruntreuung, Nötigung und Freiheitsberaubung". Von "Calcio-Gate" war die Rede und "Calciopoli", analog dem Politskandal "Tangentopoli", der 1990/92 eine ganze politische Klasse und ein Verfassungssystem hinweggefegt hatte.
Der Fußballskandal repräsentierte zugleich idealtypisch das ganze Geflecht aus Vetternwirtschaft und Bestechung, das Italien zur Zeit erschüttert: Der gigantische Bankenskandal um Zentralbankgouverneur Antonio Fazio, der Parmalat-Skandal um die kriminelle Unternehmensführung beim Lebensmittel-Multis "Parmalat", wo der Chef persönlich die Aktiva am Fotokopierer fälschte, Scheingeschäfte fingierte und die Verluste mit Anleihen in Höhe von 150-Millionen-Euro auf den Cayman-Inseln deckte, sind nur die schlimmsten Beispiele für ein System, das eine ganze Gesellschaft im Griff hält. Unter Ministerpräsident Berlusconi waren derartige Skandale deutlich ausgeufert - Ergebnis einer neuen Schamlosigkeit und einer Regierung, die die Justiz untergraben und das Prinzip, dass jeder sich selbst der Nächste sei, zur Staatsdoktrin erhoben hatte.
"Typisch Italien, wir haben es im Blut"
Nicht zufällig wurde der pensionierte Mailänder Staatsanwalt Francesco Saverio Borrelli Chefermittler, der schon das Korruptionsverfahren "Mani Pulite" (Saubere Hände) leitete. Doch dann kam das Skandalurteil von der vergangenen Woche. Lügen gestraft waren damit all jene, die geglaubt hatten, nun würde sich wirklich einmal etwas ändern im Calcio und damit auch in Italien. Die nicht eben kleine Fraktion der Italienversteher unter den deutschen Journalisten, allen voran Birgit Schönau, die etwas vorlaut in der "Zeit" behauptete, im italienischen Fußball werde "kein Stein auf dem anderen bleiben". Das Sportgericht, das die drastischen Strafen verhängt habe, mache erst den Anfang, konnte man auch lesen. Die Regierung habe nun auch anderen Lobbys und der Vetternwirtschaft allgemein den Kampf angesagt - etwa den Taxifahrern, "die den Markt blockieren". Pustekuchen: Die Taxifahrer streikten gegen Prodi und der Ministerpräsident hat seine laut angekündigte Reform schon wieder kleinlaut zurückgezogen. In allen ihren angekündigten Plänen ist die Regierung ins Stocken geraten, inklusive der wichtigen Mediengesetze, die künftigen Regierungen eine Beherrschung der öffentlichen TV-Sender a la Berlusconi unmöglich machen soll.
Aber Berlusconis "Mediaset" zog offenbar auch beim jüngsten Fußballurteil hinter den Kulissen kräftig die Strippen: Fällige Raten des Konzerns wurden nicht an die Liga überwiesen und man drohte mit dem Ausstieg aus der Berichterstattung - wegen Werbeverlusten in Milliardenhöhe wäre das dem Konkurs der meisten Ligavereine gleichgekommen. In diesem Sumpf wird auch klaglos akzeptiert, dass bei Juventus Turin seit Jahren systematisch gedopet wird, dass die Milliarden für die Liga-Vereine - etwa in Parma, bei Milan oder Lazio Rom - offenkundig aus halblegalen bis kriminellen Kanälen kommen.
Dazu kamen noch schleppende Dauerkartenverkäufe. Und mit dem "Respekt für die Regeln", den man zuvor lauthals eingefordert hatte, war es schnell wieder vorbei. Am Schluss gab es einen netten Kompromiss, stellte im Corriere della Sera der frühere Mailänder Oberstaatsanwalt Gerardo D'Ambrosio fest, "wo hier und dort ein bisschen geändert wurde, um in der Substanz alles beim Alten zu lassen. Typisch Italien, wir haben es im Blut. Wieder eine verpasste Gelegenheit."
Weltmeister Mafia
Dass die Mafia ins Finale kam und Italien Weltmeister wurde, war das Schlimmste, was dem Land passieren konnte. Calcio-Gate ist nun zugedeckt, die Selbstreinigung auf die nächsten 20 Jahre verhindert. Ein bitterer Triumph. Eine moralische Niederlage - unverdient errungen mit erbärmlich leichten Gegnern - Ghana, USA, Tschechien, Australien, Ukraine - und einer Mischung aus Fouls, destruktivem Spiel und Glück beim Elfmeterschießen. Weltmeisterspieler Materazzi ist deswegen eine Figur von ähnlichem Symbolwert wie Silvio Berlusconi, weil er in seiner Infamie die Lebenslügen der Italiener, den nach außen gern aufrecht erhaltenen glänzenden schönen Schein so deutlich zerstört, wie niemand sonst: "Wir können auch ohne Tricks gewinnen." Können sie eben nicht.
Darüber tröstet auch nicht das ein wenig verlegen-schelmisch-charmante Lächeln der Squadra Azzura hinweg, ihre Freude "wie die Kinder", so der italophile Beckmann, genauer gesagt, wie Mamas Lieblingsschwiegersohn, der sich beim Ausgehen mal wieder den besten Anzug bekleckert hatte und eben im Herzen doch ein großer Junge bleibt - so ist er halt. Genau. So sind sie.
Der Fußball zeigt aufs Neue, was Berlusconis Telekratie schon bewies: Italien ist eine Skandalrepublik, das schwarze Schaf Europas südlich der Alpen. Klar: Deutsche Ausfälle gegen Schlamperei, "Parasiten" (Der Spiegel), und "ölige" Italiener sind unangemessen. Aber wie soll man eigentlich einen Staat ernst nehmen, ein Volk schätzen und verteidigen, das die Korruption zur raison d'etre erklärt? Wozu überhaupt Gesetze? Wozu Regeln, wozu Statuten, in denen für das, was Juventus Turin nachweislich gemacht hat, nichts anderes vorgesehen war, als die Rückversetzung zu den Amateuren?
Fehlende Kulturrevolution
Muss nun die UEFA eingreifen und wenigstens im Fußball ein wenig Recht vor Gnade ergehen lassen? So wie die EU-Kommission, die seit Jahren die unsolide Finanzpolitik des Staates rügt, worauf dann auch nichts weiter passiert, außer dass sich aus Rom Politiker aus der zweiten und dritten Reihe zu Wort melden und "drohen", wenn sich Brüssel nicht benehme, werde man aus dem Euro aussteigen und zur Lira zurückkehren - genau so, wie jetzt die übelsten Funktionäre von Lazio und Florentina.
Italien braucht eine Kulturrevolution, eine Modernisierung der Köpfe. Zur Zeit herrscht das Materazzi-Prinzip, jene Handlungsweise, deren zugrundeliegende Prinzipien man recht gut beim italienischen Verteidiger beobachten konnte, der im WM-Finale Zinedine Zidane durch fortwährende Tritte und Beleidigungen zu seinem spielentscheidenden Kopfstoß provozierte: Erst Unrecht tun, dann verlegen lächeln und sich schließlich als Opfer darstellen - so wie jetzt die Hauptbeteiligten im Fußballskandal.
Italien ist unmoderner als viele glauben. Es braucht Unterstützung und Respekt, ganz sicher. Aber ein Land ernst zunehmen, heißt auch ihm nicht immer alles "noch ein letztes Mal" durchgehen zu lassen wie die Mama ihrem Lieblingsschwiegersohn. Einstweilen aber bleibt alles wie jeden Sommer in Italien.
Telepolis Artikel-URL: http://www.telepolis.de/r4/artikel/23/23222/1.html
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