Mut zur Faulheit
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neuester Beitrag: 05.11.06 23:46
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eröffnet am: | 19.10.06 17:53 von: | romeo 2k6 | Anzahl Beiträge: | 12 |
neuester Beitrag: | 05.11.06 23:46 von: | sacrifice | Leser gesamt: | 2131 |
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schön dass es das Internet gibt
Faulheit
Ich gehöre heute zu den faulsten Menschen, die ich kenne. So mache ich täglich einen - oft ausgedehnten - Mittagsschlaf und verbringe viel Zeit im Kaffeehaus, um dort in Ruhe Zeitung zu lesen und die Menschen zu beobachten. Meine Umgebung schätzt mich auch gerne als faul ein, weil ich oft langsam gehe (übrigens auch so fahre, einfach damit ich mehr und besser sehen kann) und weil ich selten eine Tasche in der Hand habe (wer fleißig erscheinen will, muss immer etwas in der Hand haben! Dass ich dafür viel im Kopf behalten kann, fällt leider nur zu selten auf). Vor allem erfülle ich das Hauptkriterium aller Faulen: Ich ruhe mich aus, bevor ich erschöpft bin. Man nennt dies heute, ich bin Experte im Pausenmanagement. Nicht, dass ich unbedingt stolz darauf bin, aber ich kann sehr gut damit leben. Als Ausrede kann ich immerhin anführen, dass ich in meinem früheren Leben zu den sehr fleißigen Menschen gehört habe und ich es mir jetzt sozusagen leisten darf, mit über 55 Jahren faul zu sein. Da ich auch keine Chefs mehr habe, kann ich dies alles so offen bekennen und mich ungeniert über die Vorzüge der Faulheit äußern.
Ich habe in meinem Leben schon viele Faule getroffen und darunter waren einige auch sehr Erfolgreiche. Wichtigstes Erkennungsmerkmal war deren überdurchschnittliche Intelligenz. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die folgende Auswahlmatrix für Einstellungen:
Die Faulen sind also dann wünschenswert, wenn sie entweder sehr nett sind, was oft vorkommt oder wenn sie sehr intelligent sind, was man nicht so häufig antrifft. Über beide Gruppen will ich nun später etwas mehr sagen. Über die Intelligenten und Fleißigen will ich hier wenig sagen, außer dass sie die wahren Juwelen sind. Wer solche Menschen in seinem Umfeld hat, sollte sie hegen und pflegen, sie sind die Quelle des Wohlstandes und des Fortschrittes. Chefs machen oft den Fehler, solche Menschen dann doch zu sehr steuern zu wollen. Hände weg davon, lass ihnen die Freiheit, die sie wollen, im Gegenteil, denke darüber nach, wie sie noch mehr Freiheit bekommen sollen, zum Wohle ihres Umfeldes. Aber vor den Fleißigen und Dummen muss ich eindringlich warnen. Sie ruinieren alles, jede Firma, jede Organisation, jede Beziehung. Sie sind kaum zu bremsen in ihrem Drang, alles zu vernichten. Das Problem ist, dass vor dem Respekt vor ihrem Fleiß ihre Dummheit gar nicht leicht einzuschätzen ist. Sie sind vor allem daran zu erkennen, dass sie viel über das WIE ihres Bemühens reden, aber wenig über das WAS, sie eigentlich erreichen wollen. Aber wer mein Kapitel über Dummheit gelesen hat, wird auch damit besser zurechtkommen. Der Hauptvorteil der intelligenten Faulen ist, dass sie darüber nachdenken (ganz wichtig, sie nehmen sich die Zeit dazu!), wie sich Arbeit vermeiden lässt. Viele Segnungen der Menschheit gäbe es nicht, wenn das nicht passiert wäre. Wir hätten keinen Buchdruck, keine Computer, keine Roboter, keine Automaten im Haushalt, keine Container im Transport, kein Just-in Time in der modernen Produktion, wenn es nicht Menschen gegeben hätte, die darüber nachgedacht haben, wie man Arbeit leichter, einfacher oder am besten gar nicht macht. Die Japaner drücken mit ihrem MUDDA gut aus, was dahinter steht: Lass es nicht umsonst sein, d.h. mache nichts, was nicht zum Ziel deines Handelns beiträgt. Allgemein bekannt ist, dass Faule weniger arbeiten und dadurch auch weniger Fehler machen. Aber Faule lernen auch leichter aus Fehlern, weil sie wissen, dass diese immer mit Arbeit verbunden sind. Sie sind also viel eher um Qualität bemüht, nur damit sie nachher ihre Ruhe haben. Sie denken darüber nach, wie sie Fehler kein zweites Mal machen. Und Faule lernen auch eher aus den Fehlern, die andere machen, dann haben sie schon keine Mühe ihre Fehler selbst zu machen. Nur Jugendliche in der Pubertät und die Fleißigen wollen alle Fehler selbst machen. Der Faule schaut gerne zu, wie die anderen in die Irre laufen und lernt dabei. Faule sind meist gute Beobachter, weil sie sich genügend Zeit dazu nehmen, dadurch werden sie auch weniger betriebsblind. Faule halten eher Ordnung, denn sie sind auch zu faul zum Suchen. Sie machen weniger Research, schlagen kaum irgendwo nach oder studieren das Vorhandene und entdecken so eher wirklich Neues. Faulheit fördert also die Kreativität. Faule sind gut im Improvisieren und neigen auch zum Wiederverwenden, was ihre Produktivität gelegentlich ins Unglaubliche steigert. Faule sind oft gute Kommunikatoren. Bei diesem Satz muss ich immer an Ronald Reagan denken, dem man nachsagte, er habe nur von 9-17h gearbeitet. Faule schreiben wenig und kurz, d.h. sehr verständlich. Faule halten nur kurze Reden, ihre Auftritte sind ein Segen für die Zuhörer. Faule machen den Mund weniger oft auf, sagen dadurch auch weniger Blödsinn. Wenn das Wenige, was sie sagen klug ist, werden sie sogar für Weise, zumindest für einen Philosophen gehalten.
Faule sind gut für den Umweltschutz, denn sie reißen keine Bäume aus. (Diese Weisheit verdanke ich einem guten Kollegen, er hat mir - nicht nur mit diesem Statement - viel über das Wesen der Menschen beigebracht). Faule sind gute Energiesparer, denn wer viel schläft, braucht weniger Strom. Faule sind auch selten misstrauisch. Denn sie vertrauen meist darauf, dass schon alles gut gehen wird. Denn unnötige Vorsorge zu treffen, das ist nicht ihr Anliegen. Bisher habe ich vor allem von den intelligenten Faulen gesprochen. Aber für fast alle Faulen - auch für die Dummen unter ihnen - gilt, dass es meist angenehme Menschen sind, wenn man davon absieht, dass man ihre Arbeit mitmachen muss. Denn Faule mischen sich nicht in fremde Probleme ein. Und Faule sind nicht gestresst und sind dadurch weniger gereizt. Faule sagen eher die Wahrheit, weil sie damit auch weniger zu verlieren haben. Faule sind oft sehr kreativ und meist extrem nett und unterhaltsam, ja ich möchte sogar verallgemeinern: Faule haben eine höhere soziale Intelligenz. Faule haben mehr Zeit für ihre Kinder. Faule haben fast nie Potenz- oder Libidoprobleme. Faule essen gerne und viel, sie sind weniger für Depressionen gefährdet und sie machen auch weniger Selbstmorde (ist zu aufwendig). Und last but not least, Faule sind gute Konsumenten, sie zahlen immer gleich ihre Rechnungen, damit sie sich nicht mit Mahnungen herumschlagen müssen und sie sind leichter zufrieden zu stellen, weil sie sich den Aufwand für Beschwerden damit sparen. Insgesamt ist für mich Faulheit kein Laster, so wie Fleiß keine Tugend ist. Erst im Zusammenhang mit dem Sinn einer Tätigkeit kann man den Einsatz, sei es nun Faulheit oder Fleiß, einordnen:
Wie man beim Autofahren nur dann ans Ziel kommt, wenn Zielrichtung und Geschwindigkeit zusammenpassen, so ergibt sich auch nur dann ein Nutzen, wenn Einsatz und Sinn dasselbe Vorzeichen haben. Bei allem Lob auf die Faulheit muss ich leider auch einige negative Fakten festhalten. Faulen leben eher ungesund, denn Faulheit heißt für viele auch Vernachlässigung des Körpers. Faule haben selten fleißige Freunde. Die meisten Faulen müssen sich doch mit Mittelmass zufrieden geben. Faule sind nicht die erste Wahl für eine Partnerschaft. Faule kommen weniger leicht mit raschem Wandel zurecht. Und Faule haben in unserer Gesellschaft ein schlechtes Image. Aber ist nicht insgesamt die Bilanz für die Faulheit sehr erfreulich? Gerade unserer hektischen, auf Leistung getrimmten deutschen Gesellschaft würde oft ein Quäntchen Faulheit gut tun, denke ich, nicht nur im Urlaub und nicht nur am Sonntag, an dem wir ruhen sollen. In den 50er Jahren hatte der Slogan "Mach mal Pause" einen großen Erfolg. Für dieses Jahr propagiere ich "Muße zum Nachdenken". Und Muße holst du dir mit dem Eingeständnis, dass du ruhig etwas fauler, langsamer und gelassener sein darfst! |
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Endlich bestätigen uns Hirnforscher, was wir schon immer gehofft und erahnt hatten: Wer gerne absichtslos und gelangweilt herumsitzt, ist eine Persönlichkeit
Was Sie hier gerade lesen, wurzelt in einem Widerspruch, der sich ähnlich auch durch die Weltliteratur zieht. Wo immer Sie über solche Phänomene wie "Faulheit", "Müßiggang", "Nichtstun", oder "Langeweile" lesen, war deren Umkehrung zuvor notwendigerweise und als Vorbedingung im Spiel: tätige Arbeit.
Die Verlockungen des Nichts mussten höchst arbeitsam be- und durchdacht, aufgereiht und sortiert, beurteilt und aufgeschrieben, lesefähig formuliert und redigiert, schließlich getippt und gedruckt werden.
Es ist insofern ein Kreuz mit der Faulheit: Selbst die Negation der Arbeit will hart erarbeitet sein. So ergeht es in diesem Augenblick dem Schreiber dieser Zeilen. Ihm käme gerade jetzt ein wenig Müßiggang sehr gelegen. Was gäbe er darum, hier ein wenig zu trödeln und dort ein bisschen zu lungern. Eine Portion Nichtstun könnte ihm schmecken. Nach all den Abwechslungen und den Reizüberflutungen wüsste er jetzt ein wenig von dem phlegmatischen Nichts zu schätzen, das wir Langeweile nennen.
Jeder ist gern (mal) faul, aber niemand gibt es zu Einfach da sitzen. Dem Weinblatt vor dem Bürofenster gleichgültig dabei zuschauen, wie es im lauen Wind schaukelt. Absichtslos auf die Hauswand gegenüber starren. Dem Sekundenzeiger teilnahmslos folgen.
Oder: Perspektivlos am Jackettknopf drehen. Mit dem Papierkorb flirten. Erwartungslos in der Nase popeln - was einer so macht, wenn er mit dem Stillstand und der Tatenlosigkeit kokettiert.
Unbestritten ist, dass dergleichen jeder tut und kaum einer zugibt. Besonders dann nicht, wenn sie oder er von Bedeutung ist, Entscheidungen am laufenden Band verursacht und strategische Notwendigkeiten managt, etwa die Umstellung einer Kaugummiverpackung von "türkis" auf "lindgrün".
So einer kann am Ende des Tages einem Tennispartner nicht erzählen, dass er sich bei der fast hypnotischen Betrachtung seines Gummibaumes wunderbar gelangweilt habe oder dass er eigentlich den Tag über nichts Rechtes zuwege gebracht habe, und das auch noch mit Lust und Absicht.
Auf die Frage "Schatz, wie war Dein Tag?" kann sie oder er rituell und standardisiert antworten: "Frag' nicht!", "Hektik, wie immer" oder "Ich bin fix und fertig." Aber niemals: "Ich hab so gut wie nix getan und fühl' mich jetzt pudelwohl."
Die Faulheit darf höchstens als literarische oder philosophiegeschichtliche Figur gelobt werden, beziehungsweise als Betrachtungsgegenstand sentimentaler Ex-Marxisten beziehungsweise Ex-Marxismuskritiker: "Das Recht auf Faulheit" hat, wie wir Nostalgiker wissen, Paul Lafargue mit Fleiß und Zitatendurst geschrieben, Schwiegersohn von Karl Marx, Adept und Freund.
"O Faulheit", schriftstellerte Lafargue geradezu hymnisch entrückt, "erbarme du dich des unendlichen Elends! O Faulheit, Mutter der Künste und der edlen Tugenden, sei Du der Balsam für die Schmerzen der Menschheit!"
Mit einigem Recht könnte man an dieser Stelle einwenden, weder der Faulheitsfan Lafargue noch der Arbeitstheoretiker Marx hätten vor der real existierenden postmarxistischen Geschichte Gnade gefunden. Weder "Faulheit" noch "Arbeit" haben fulminante Karrieren in den Wirtschafts- und Sozial-Beziehungen gemacht.
Das "Nichtarbeiten" ist sozial und kulturell nach wie vor so diskreditiert wie uns das tätige Arbeiten entweder abhanden kommt oder sich zum "Dienstleisten" verändert.
"Was uns bevorsteht", prophezeite die in diesen Tagen viel zitierte Hannah Arendt, "ist die Aussicht auf eine Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgegangen ist, also die einzige Tätigkeit, auf die sie sich noch versteht."
Tatenlosigkeit kommt selbst in den Ferien nicht so gut an "Müßiggehen" ist dennoch kein Verhandlungsobjekt bei Tarif-Auseinandersetzungen, es sei denn, es geht um Hochschullehrer oder Arbeitspsychologen: Die nennen es dann Freisemester beziehungsweise Sabbatical und können das Nichtstun mit Fleiß und unter Fortbezahlung der Bezüge kultivieren.
Wir anderen verschieben diese Phasen der Tatenlosigkeit in den Jahresurlaub, meist erfolglos. Erstens wegen der Kinder ("Papa, mir ist so langweilig!"), und zweitens wegen der zunehmenden Eventualität unserer Freizeit, in der die Wonnen des Müßiggangs Schlag auf Schlag, Event für Event abzuarbeiten sind. Zur absichtslosen Faulheit darf es selbst in der Freizeit nicht kommen, ihr muss mindestens das Adjektiv "kreativ" vorausgehen, um gesellschaftsfähig zu sein.
Kreativ muss das Nichtstun sein, und zwar bis zur Erschöpfung, beziehungsweise, bis es kracht, wie es der große Sozialkundler Loriot in einem fabelhaften Sketch zwischen Hermann und seiner Frau beschreibt.
"Sie: Was machst du da? Er: Nichts. Sie: Nichts? Wieso nichts? Er: Ich mache nichts ... Sie: Aber irgendwas machst du doch. Er: Nein. Sie: Denkst du irgendwas? Er: Nichts Besonderes." Und so weiter. Und so fort.
Der Dialog spitzt sich final zu einem furiosen Ehekrach zu, der erstens die Loriotsche These bestätigt, dass Männer und Frauen nicht zusammen passen und zweitens, dass unmotiviertes, aggressionsfreies, Herumsitzen in Tateinheit mit Nichtstun die Mitmenschen zur Raserei bringen kann.
Die Furie würde sich vielleicht zur Raison wenden, wenn die Gegner des absichtslosen Herumlungerns um die objektiven Vorzüge des Nichtstuns wüssten. Nichtshören, Nichtssehen, Nichtsfühlen und Nichtsdenken sind nämlich nicht Nichts, sondern kognitiv messbare Aktivitäten, die Muster im Gehirn herausbilden und das Stirnhirn anregen - wie Hirnforscher festgestellt haben. Danach sind - beim Nichtstuer, -denker, -fühler etc. - die Regionen und Zentren im Gehirn stärker aktiviert, die für die Persönlichkeit und die Persönlichkeitssteuerung und die allgemeine Orientierung eine große Rolle spielen. Wer regelmäßig ziellos herumlungert, reift mithin zu einer achtbaren Persönlichkeit heran, die sich zurecht findet und weiß, wohin sie will.
Selbst die Langeweile, diese Schutzpatronin und Ernährerin der weltweiten Spielwarenwirtschaft, kommt durch die Hirnforschung zu höheren Weihen, wie der Gehirnforscher Detlef Linke (1945 - 2005) sagte.
Schwebte dem Phänomenologen Husserl der Nichtstuer vor?
Ein Mensch, der sich sozusagen gepflegt langweilt, fährt, so Linke, in seinem Hirn den Hippokampus herunter, der stets auf das Neue, Erregende ausgerichtet ist.
Dadurch verhelfe er den Hirnstrukturen, die für Emotionen, Wertung und Sexualität zuständig sind, dazu, zu einer Eigenschwingung und Zusammenstimmung zu kommen, quasi abgestimmter, harmonischer und ausgeruhter zu sein. Besserer Sex also durch Langeweile?
Womöglich gelangt der Nichtstuende durch seine hinhaltende Taten- und urteilsfreie Gedankenlosigkeit sogar zu einer höheren philosophischen Erkenntnisstufe als sein stetig urteilen-, denken- handelnder Counterpart.
"Man enthält sich jeglichen Urteils über Sein und Nichtsein der Gegenstände", so der Phänomenologe Edmund Husserl, dem beim Nachdenken über das Seiende und das Nichtige vielleicht selbst ein bisschen fad war, als er wie selbstrechtfertigend schrieb: "und ermöglicht so die vorurteilsfreie Betrachtung des reinen Bewusstseins". Der Faulpelz als wahrer Denkfabrikant höchster Ordnung?
Uli Schulte Döinghaus
Schulte-Döinghaus, Uli
03. November 2006