„Die Demografie ist der Sündenbock“ Gerd Bosbach
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Köln / sz Rente mit 67 oder gar mit 69 – steuern wir auf eine demografische Katastrophe zu? Nein, sagt Gerd Bosbach, Professor für Statistik, Mathematik und Empirie. Er hält die gesamte Demografie-Debatte für inszeniert, um Menschen Angst zu machen. Mit Bosbach sprach unser Redakteur Klaus Wieschemeyer.
SZ: Herr Bosbach, sterben wir Deutschen aus?
Bosbach: Nein. Deutschland ist nach wie vor eines der bevölkerungsreichsten Länder Europas. Selbst bei der allerschlechtesten Variante der Rechnungen des Statistischen Bundesamtes bleiben im Jahr 2050 immer noch mehr als 67Millionen Bewohner über.
SZ: Das wäre aber ein dramatischer Rückgang – bei derzeit mehr als 80 Millionen . . .
Bosbach: Das war das Negativ-Szenarium. Bei den normalen Varianten verbleiben 70 bis 75 Millionen Menschen. Das ist etwas über zehn Prozent weniger als heute. Und das sehe ich nicht als Gefahr, sondern als Entspannung. Die Autobahnen, Züge, Universitäten und Schulen werden etwas leerer. Beispiel: Bei einem Rückgang der Kinderzahlen um 20 Prozent säßen in einer Klasse nicht mehr 25, sondern 20 Kinder.
SZ: Im ländlichen Raum ist das oft dramatischer.
Bosbach: Das hat wenig mit Demografie zu tun, sondern viel mit Strukturwandel. Die Demografie ist der Sündenbock. Sie wird von der Politik für alles verantwortlich gemacht, was nicht klappt. Als Gesundheitsministerin Ulla Schmidt 2003 die Praxisgebühr einführte, begründete sie das im Bundestag mit der demografischen Entwicklung.
SZ: Aber der Fachkräftemangel ist klar ein demografisches Problem.
Bosbach: Wenn es ihn tatsächlich gibt (was noch nicht erwiesen ist), liegt das auch an Verfehlungen der Vergangenheit. In den 1990er-Jahren sind bis zu 300 000 Jugendliche pro Jahr bei der Ausbildung unversorgt geblieben. Das wären jetzt gute Fachkräfte um die 30.
SZ: Aber es gibt doch schlicht zu wenig Kinder, oder?
Bosbach: Seit 1970 bekommt jede Frau in Deutschland durchschnittlich etwa 1,4 Kinder. In derselben Zeit ist die Bevölkerung dank Zuwanderung und älter werdender Menschen von 78Millionen auf etwa 82 Millionen gewachsen. Und schauen Sie mal an eine Schule oder Hochschule: Hätten wir mehr Kinder gezeugt, wäre in der Bildungslandschaft alles geplatzt. Und wir hätten mehr Arbeitslose. In Frankreich haben die Frauen mit 2,0 durchschnittlich mehr Kinder als in Deutschland – und geht es denen besser?
SZ: Damit haben die Franzosen immerhin mehr junge Menschen, die die Renten sichern. Uns gehen dagegen die Zahler aus.
Bosbach: Die Zahl der Erwerbsfähigen sagt da wenig aus. Die Leute müssen erst einmal Arbeit haben, von der sie die Beiträge auch erwirtschaften können. Im Jahr 1900 kamen auf einen Rentner in Deutschland 13 Erwerbsfähige, im Jahr 2000 waren es vier – und die Renten waren höher. Die Produktivitätssteigerung hat die demografische Entwicklung klar geschlagen.
SZ: Müssen wir also gar nicht bis 67 oder gar 69 arbeiten?
Bosbach: Die unbezahlbaren Renten sind eine Mär. Die Produktivitätssteigerungen können das problemlos ausgleichen. Wenn die Produktivität – konservativ gerechnet – nur um ein Prozent pro Jahr steigt, könnte jeder Beschäftigte im Jahr 2060 glatte 30 Prozent Rentenbeitrag zahlen und gleichzeitig sein verbleibendes Einkommen real um mehr als 40 Prozent steigern.
SZ: Wie bitte?
Bosbach: Vorausgesetzt allerdings, dass die Produktivität auch an die Arbeitnehmer ausgezahlt wird. Wenn die Löhne mit der Produktivität steigen, gibt es kein Problem. Wenn die Umverteilung von Arbeitnehmern zu Arbeitgebern, die wir spätestens seit der Wiedervereinigung sehen, so weitergeht, haben wir ein Problem.
SZ: Das hört sich in der öffentlichen Debatte anders an…
Bosbach: Es gibt viele, die von der Demografie-Angst profitieren. Die Politik kann sie zum Sündenbock für eigene Fehler machen und soziale Einschnitte damit begründen. Und die Versicherungswirtschaft will ihre Produkte verkaufen. Für die gesetzliche Rente werden pro Jahr etwa 250 Milliarden Euro ausgegeben. Da hätte die Privatwirtschaft gerne etwas ab.
SZ: Aber wir haben doch nun einmal wirklich eine historisch einmalige Verzerrung der Bevölkerungspyramide.
Bosbach: Die Angst ist viel älter, als man ahnt. Schon 1932 schrieben Weimarer Bevölkerungsforscher vom „Volk ohne Jugend“. Im 20.Jahrhundert stieg die Lebenserwartung um mehr als 30 Jahre, gleichzeitig sank der Jugendanteil: Im Jahr 1900 war fast jeder Zweite unter 20 Jahre alt, im Jahr 2000 nur noch jeder Fünfte. Die Zahlen klingen katastrophal – doch die Katastrophe ist einfach ausgeblieben.
(Erschienen: 17.01.2012 20:40)
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