»Wenigstens von einem Land der Welt haben wir nun kein Wett- rüsten zu befürchten«, meinte der Earl of Beatty, Admiral of the Fleet und britischer Flottenführer im Ersten Weltkrieg, am 26. Juni 1935 im britischen Oberhaus. Dieses eine Land war Deutschland, und der Lord fügte hinzu, man müsse den Deutschen dafür wirklich dankbar sein. Eine Woche zuvor, am 18. Juni, hatten Großbritanniens Außenminister Sir Samuel Hoare und der deutsche Sonderbotschafter Joachim v. Ribbentrop in London den deutsch-englischen Flottenvertrag unterzeichnet. Das Deutsche Reich hatte die Verpflichtung übernommen, seine Marinerüstung auf 35 Prozent der gesamten Flotte Großbritanniens und des Commonwealth zu begrenzen. Die 35 Prozent galten auch für die einzelnen Schiffskategorien, also für Schlacht schiffe, Kreuzer, Flugzeugträger, Zerstörer und so weiter. Eine Ausnahme nur für Unterseeboote: Hier durfte Deutschland 45 Prozent der britischen Tonnage bauen, und es durfte zu gegebener Zeit den begründeten Antrag stellen, die eigene U-Bootwaffe ebenso stark zu machen wie die britische. Der deutsche Erfolg war offensichtlich: Bisher hatte man nur heimlich die Rüstungsbeschränkungen des Vertrages von Versailles umgangen; jetzt wurde diese Haltung legalisiert. Zum erstenmal hatte ein ehemaliger Feindstaat in einem zweiseitigen Vertrag einer deutschen Marinerüstung zugestimmt, hatte Versailles mit einem Federstrich zu den Akten gelegt. Die 35-Prozent-Klausel bedeutete aber auch verbriefte Sicherheit für Großbritannien, daß es nicht wieder zu einer Flottenrivalität und zu einem Wettrüsten wie am Anfang des Jahrhunderts kommen werde. Sie bedeutete, daß Berlin Londons Seeinteressen anerkannte, daß es die britische Vorherrschaft auf dem Meer als gegeben und unantastbar hinnahm. Da die deutsche Marine nur mehr ein gutes Drittel der Royal Navy erreichen durfte und zudem die ungünstigere geographische Lage zum offenen Meer zu berücksichtigen hatte, erschien es absurd, sich England noch einmal als Gegner zur See vorzustellen. Tatsächlich hat die deutsche Marine den Flottenvertrag in den folgenden Jahren durch aus ernst genommen und ihn als »Basis für eine dauernde Verständigung mit England« angesehen, wie es der damalige Chef des Marinekommandoamtes, Konteradmiral Günther Guse, formulierte. Raeder ging noch weiter. Er erließ ein ausdrückliches Verbot, sich auch nur in einer theoretischen Studie oder einem Planspiel mit England als Gegner zu beschäftigen. Hitler hatte schon 1933 versichert, er wolle mit England, Italien und Japan niemals Krieg haben. Gegenüber seinem Marinechef bekräftigte er diese Versicherung immer aufs neue. Getreu seinem persönlichen Dogma vom Primat der Politik vertraute der Oberbefehlshaber der Marine auf Hitlers Wort. »Es war die Tragik meines Lebens«, schrieb der Großadmiral später, »daß die Entwicklung einen anderen Weg genommen hat.«
Eine realistischere Einschätzung der vom Dritten Reich betriebenen Politik und ihrer Folgen setzte sich in der Marine erst im Sommer 1938 durch. Wieder war es Hitler, der Ende Mai, auf dem Höhepunkt der ersten Krise zwischen Berlin und Prag, Raeder zu sich rief und ihm eröffnete, es sei auf die Dauer doch damit zu rechnen, daß England auf der Seite der Gegner Deutschlands stehen werde. Hitler verlangte den beschleunigten Ausbau der Marine für einen möglichen Konflikt, den er aber nicht vor 1944 erwartete. Bis dahin sollte Raeder seine Flotte in Ruhe aufbauen können.
Diese von vielen vorausgesehene und dennoch überraschende Wendung stellte die Marine vor nicht geringe Probleme. Nach der klassischen Rangfolge jeder Planung galt es zunächst ein Konzept zu beschließen, wie denn ein Seekrieg gegen England überhaupt mit Aussicht auf Erfolg geführt werden könne, um danach die in dieses Konzept passenden Schiffe zu bauen. Raeder beauftragte seinen jüngsten Admiralstabsoffizier, den stets kritischen Fregattenkapitän Hellmuth Heye, eine Denkschrift »Seekriegführung gegen England« auszuarbeiten. Außerdem berief er einen Planungsausschuß, in dem die erfahrensten Admirale »zu einer einheitlichen Auffassung . . . für den gesamten Aufbau der Kriegsmarine« zu kommen hatten.
Nüchtern stellte Heye fest, daß die sogenannte »Schlachtentscheidung« auf See, das Aufeinandertreffen der gepanzerten Kolosse wie einst in der Skagerrakschlacht, keine Aussichten. biete, die seestrategische Lage zugunsten Deutschlands zu ändern. Das galt selbst für den unwahrscheinlichen Fall, daß es Deutschland gelingen sollte, eine dem Gegner ebenbürtige oder gar überlegene Flotte ins Gefecht zu führen. Blieben die Deutschen aber unterlegen - und etwas anderes war kaum zu erwarten -, dann waren die Aussichten, mit Schlachtschiffen zum Ziel zu kommen, gleich Null.
Diese Ansicht schockierte vor allem die älteren Admirale. Wollte die Seekriegsleitung Schlachtschiffe zum alten Eisen erklären? Stieg und fiel der Wert einer Marine nicht mehr mit der Zahl ihrer gepanzerten Kolosse?
Heyes Alternative lautete, die primäre Aufgabe sei der Kampf gegen die englischen Seeverbindungen. Er sagte voraus, daß eine solche Kriegführung bei der Abhängigkeit Englands von seinen Zufuhren über See die größten Erfolge verspreche. Konsequenz: Nur Schiffe, die für den Kreuzerkrieg auf hoher See geeignet seien, sollten gebaut werden. Freilich gab es da einen Haken. Die Schiffe mußten aus der Enge der Deutschen Bucht und der Nordsee heraus in den Atlantik vorstoßen. Sie mußten die englische Blockadestellung durchbrechen. Wie sollte das geschehen? Hier bekamen die Verfechter einer Schlachtflotte wie der Oberwasser: Nur »schwerste Schiffe« könnten den Durchbruch in den freien Ozean erkämpfen!
So wurden die Weichen doch wieder in Richtung einer mächtigen Schlachtflotte gestellt, trotz der Erkenntnis, daß England auf absehbare Zeit mit Schlachtschiffen nicht entscheidend zu schlagen sein werde. Es schien undenkbar, eine Marine zu planen, die dem Dritten Reich Seegeltung, ja Weltgeltung bringen sollte, und dabei von vornherein auf gewaltige Schlachtschiffe zu verzichten.
Der junge Fregattenkapitän Heye konnte sich mit seiner abweichenden Ansicht nicht gegen die Front der Admirale durchsetzen. Er konnte es um so weniger, als auch er gegenüber der wirklichen Alternative zum Schlachtschiff-Konzept, dem Angriff mit U-Bootrudeln auf die feindlichen Seetransporte, skeptisch blieb. Damals wurde allgemein angenommen, daß die U-Bootabwehr mit verbesserten Ortungsmethoden das angreifende U-Boot in die Defensive drängen könne und nennenswerte Erfolge nicht zulassen werde. Die deutschen U-Bootfahrer, die ganz anderer Meinung waren, wurden im Planungsausschuß ebenso wenig gehört wie Vertreter der Luftwaffe, die gewiß in die Debatte geworfen hätten, daß selbst schwerste Schlachtschiffe auf die Dauer dem Angriff aus der Luft nicht mehr gewachsen sein würden.
Am 31. Oktober 1938 legte der Vorsitzende des Planungsausschusses, Vizeadmiral Guse, dem Oberbefehlshaber, der sich aus den Diskussionen herausgehalten hatte, das Ergebnis der Beratungen vor. Der Ausschuß empfahl neben einem stärkeren Panzerschiffstyp für den Handelskrieg in weiten Seeräumen vor allem den Bau von sechs Superschlachtschiffen des Typs »H«, die eine Standardverdrängung von mehr als 56 000 ts erreichen sollten. Die Marine wollte sich des Großdeutschen Reiches würdig erweisen.
Raeder eilte sogleich zu Hitler und trug ihm die Ergebnisse des »Z-Plans« zum Ausbau der Kriegsmarine vor. Er habe dabei, erinnerte er sich später, die folgende Alternative angeboten: Entweder »hauptsächlich U-Boote und Panzerschiffe« zu bauen; das gehe schneller und ergebe im Fall eines Krieges »eine gewisse Bedrohung« für Englands lebenswichtige Zufuhr über See, sei aber andererseits recht einseitig, weil nicht für einen Kampf mit stärkeren englischen Seestreitkräften geeignet. Oder »eine schlagkräftige Flotte mit stärksten Schiffstypen« zu schaffen; das werde länger dauern, diese Flotte sei dann aber in der Lage, »sowohl die englische Seezufuhr als auch die Seestreitkräfte mit Aussicht auf Erfolg zu bekämpfen«.
Raeder verband mit der Empfehlung für die zweite Lösung die Warnung, die Marine werde unfertig dastehen, falls es schon in den nächsten Jahren zum Kriege komme. Hitler versicherte erneut, daß er die Flotte »nicht vor 1946« brauchen werde. Auch er neigte, wie die Admirale, zum großartigen Schlachtschiffbau. Am 27.Januar 1939 erteilte hitler der Marinerüstung absoluten Vorrang gegenüber Heer und Luftwaffe. " Ich befehle, daß der von mir angeordnete Aufbau der Kriegsmarine allen anderen Wehrmachtteilen und einschließlich der Aufrüstung der beiden anderen Wehrmachtteile und einschließlich des Exports vorgeht. Der Aufbau erstreckt sich auf die Durchführung und die Erhaltung der Kriegsbereitschaft der Seestreitkräfte. " Der Startschuß für diese Z-Plan-Flotte fiel am 29. Januar 1939. Drei Monate später kündigte Deutschland den Flottenvertrag mit England. Der Traum »Nie wieder gegen England« war aus geträumt. Noch einmal vier Monate später- und der Krieg brach aus.Die Z-Plan-Flotte, die sich angesichts der tatsächlichen Ereignisse als eine gewaltige Fehlplanung erwies, sollte bis zum Jahre 1944 außer den bereits erwähnten sechs Superschlachtschiffen vom Typ »H« - für die Dieselmotorenantrieb und eine Bewaffnung von acht 40,6-cm-Geschützen vorgesehen waren - folgende Einheiten umfassen:Je zwei Schlachtschiffe vom Typ Bismarck und vom Typ Gneisenau - die letzteren in den Jahren 1941/42 ebenfalls ungerüstet auf 38-cm-Geschütze; die drei bereits vorhandenen Panzerschiffe vom Typ Deutschland plus 12 neue Panzerschiffe (P-1-Klasse); drei neukonstruierte Schlachtschiffe von 32000 ts (O-Klasse) mit sechs 38-cm-Geschützen und besonders hoher Geschwindigkeit, ein Schiffstyp, der bis zum Jahre 1948 auf zwölf Einheiten aufgefüllt werden sollte; zwei Flugzeugträger von 23 200 ts, von denen der erste, Graf Zeppelin, bereits am 8. Dezember 1938 vom Stapel gelaufen war und zeitweise weitergebaut wurde, bis 1943 der endgültige Baustop kam; fünf schwere Kreuzer von 10 000 ts, die sogenannten Washingtonkreuzer ( je 3 x Prinz Eugen-Klasse und 2 x Admiral-Hipperklasse); ferner zwölf neue leichte Kreuzer (M-Klasse) und 22 Spähkreuzer (SP-1, Klasse) , 47 Zerstörer, 54 Torpedoboote und insgesamt 229 U-Boote der verschiedensten Typen, vom »Einbaum« bis zum U-Kreuzer für ferne Meere.
Doch nicht die leichten Streitkräfte, sondern der Zeit, Arbeitskraft und Material fressende Schlachtschiffbau berechtigte die Frage, ob die Kapazitäten der deutschen Werftindustrie dieses Mammutprogramm überhaupt zulassen würden. Anscheinend hoffte das OKM, das allgemeine Kräftepotential der deutschen Wirtschaft anzapfen und neue Produktionsstätten bauen zu können, ohne dabei an die Anforderungen der bei Hitler hoch angesehenen anderen Wehrmachtteile Heer und Luftwaffe zu denken.
Der frühe Kriegsausbruch traf den Z-Plan noch in den ersten Anfängen seiner Verwirklichung: Lediglich von zwei »H« Schlachtschiffen war der Kiel gestreckt, doch das verbaute Material mußte bald wieder abgebrochen werden. Der Kampf um Kapazitäten und Prioritäten entbrannte nun in vollem Umfang. Am 3. September 1939, als alle hochfliegenden Pläne zerrannen, versuchte Großadmiral Raeder noch einmal die Z-Plan-Politik zu rechtfertigen: »1944/45 hätte Deutschland eine genügende Zahl von Schlachtschiffen, Panzerschiffen, Kreuzern, Flugzeugträgern und U-Booten besessen, um sich dem meerbeherrschenden England auf den Ozeanen zu stellen.
Berti222, Oltn.z.See, 1WO, (Z12)
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