Weiter Weg bis zum Ausverkauf
Nachdem nun auch die letzte Bastion der Weltbörsen, der Dow Jones Industrial Average, stark einbricht, spricht es sich mehr und mehr herum, dass der Bullenmarkt ein Ende genommen haben könnte. Die am häufigsten gestellten Fragen lauten: „Wie tief fällt es noch?“ und „Soll ich meine Aktien oder Fondsanteile halten oder verkaufen?“
Die Antwort hierauf geben die Anleger selbst. Denn, neben allen fundamentalen Einflußgrößen, sind sie selbst es, die entscheiden, ob sie kaufen oder verkaufen. Diese Entscheidung wird in hohem Maße von Emotionen mitbeeinflusst. Den stärksten Effekt auf die emotionale Verfassung des Anlegers hat die Frage, ob er mit seinen Aktieninvestments im Gewinn oder im Verlust liegt.
Fallende Kurse lösen beim Anleger mentale Schmerzen aus, da er seine Buchgewinne schrumpfen oder seine Verluste zunehmen sieht. Er verkauft aber nicht, noch zögert er. Die Kurse fallen so lange weiter, bis er völlig zermürbt aufgibt und endlich verkauft. Durch die Verkäufe wird das Angebot erhöht, was wiederum auf die Kurse drückt. Die erneut fallenden Kurse erhöhen den Druck auf andere Anleger, die auch nach und nach verkaufen. Der beschriebene selbstverstärkende Prozess erreicht seinen finalen Höhepunkt, wenn die Kurse so tief fallen, dass sich sogar solche Anleger von ihren Papieren trennen, die bisher „ganz ruhig geblieben sind.“
Der Chart zeigt den amerikanischen Standard & Poors 500 Aktienindex von Januar 1973 bis Dezember 1977. Darunter sind die Daten einer regelmäßig durchgeführten Börsenbriefauswertung geplottet. Es wird der Anteil der negativ eingestellten Briefe an all den Briefen dargestellt, die eine klare Meinung –sei es eine bullische oder bärische- beziehen. Die dick eingezeichnete Waagrechte bei 50% verweist auf eine Gleichverteilung beider Gruppen. Im langfristigen Mittel überwiegen allerdings die Bullen. Dies wird unter Börsenpsychologen mit der dem Menschen eigenen Haltung begründet, Risiken eingehen zu wollen und dabei sogar eine gewisse Freude zu empfinden. In Bezug auf das Verhältnis von Verkaufsdruck und Kaufinteresse ist die 50%-Waagrechte demnach bereits stärker in Richtung „Verkaufsdruck“ und fallende Kurse zu interpretieren.

Seit Anfang 1973 fallen die Kurse stetig. Die Bullen überwiegen die Bären während der Abwärtsstrecken. Sobald die Bären in der Mehrzahl sind (Punkte oberhalb der 50%-Waagerechten), stabilisieren sich die Kurse. Es wird sogar aggressiv gekauft, was die Kurse nach oben treibt. Gleichzeitig überlegen es sich viele Bären anders und konvertieren ins bullische Lager (Punkte 1 und 2). Erst im April 1974, als die Marke von 90 Indexpunkten unterschritten wird, nimmt die Sentiment-Verteilung Relationen an, die man seit Bestehen der Erhebung noch nicht gesehen hat. Während des 5 ½ Monate währenden scharfen Bärenmarkts, der bis auf ca. 60 Indexpunkte führte, kam im Durchschnitt ein Bulle auf zwei Bären.
„Vier lange Monate 60% und mehr Bären.“
Erst diese extreme Polarisierung der Emotionen führte zu einer wirklichen Marktbereinigung, die den zweieinhalb-jährigen Bärenmarkt beendete. Entscheidend für die Anwendung der Vokabel „Aufgabestimmung“ war zum einen die im Vergleich zu den Vorjahren, ja Vorjahrzehnten extrem negative Stimmung UND die lange Dauer, während der diese Stimmung vorherrschte. Im Oktober und Dezember 1974 bildete sich ein mustergültiges Doppel-Bottom heraus, welches einen neuen, zwei-jährigen Bullenmarkt einläutete mit im Jahre 1976 äußerst selbstzufriedenen Investoren, von denen nur 20% bärisch waren.
Die große Frage lautet, wie es denn heute um das Sentiment bestellt ist und ob es schon Kaufsignale gibt.

Im Chart von 1996 bis 2001 wurde eine etwas andere Darstellung gewählt: Bullen dividiert durch Bären. Hohe Werte dieses Quotienten zeigen großen Optimismus und parallel dazu Markttops an, wie beispielsweise im Sommer 1998 oder Anfang 2000. Hier wurde außerdem ein 10-wöchiger gleitender Durchschnitt gewählt, um die hektischen Oszillationen herauszufiltern und nur die großen Schwingungen zu sehen. Extrempunkte im Indikator werden aufgrund der Glättung mit einigen Wochen Verspätung angezeigt.
Aktuell gibt es bereits in der dritten Woche in Folge mehr Bären als Bullen, was zuletzt im Herbst 1998 der Fall war. Die exemplarisch eingezeichneten roten Vertikalen zeigen zwei große Kaufsignale aus den Jahren 1997 und 1998. Also jetzt wieder ein Kaufsignal? Der S&P 500 jedenfalls hat nach dem extremen Abverkauf nach den Anschlägen in New York und D.C. V-förmig nach oben korrigiert. Wer das Bild von 1996 bis 2001 alleine betrachtet und die hohe Güte des Indikators sieht, wird jetzt Aktien kaufen und halten und erwarten, daß die Kurse noch weiter steigen, während sich der Pessimismus schrittweise abbaut. Doch halt! Ist dies bereits das Ende des Bärenmarktes?
Nein! Ein Blick zurück ins Jahr 1973 zeigt, wie deutlich eine echte Aufgabestimmung im Indikator aussehen kann: Auf einen Bullen kommen zwei Bären und das während 3 Monaten. Rechnet man dies in die Darstellung des im zweiten Chart gewählten Sentiment-Indikaors um, so müßte dieser noch bis auf 0,50 fallen und zwar in der gewählten Darstellungsweise des 10-wöchigen gleitenden Durchschnitts. Wenn dann noch zusätzlich die Titelseiten mehrerer (!) Zeitschriften das Ende der Aktienanlage verkünden, ist es an der Zeit, Aktien auf Sicht einiger Jahre zu kaufen.
Seit Beginn des Bärenmarktes Anfang 2000 ist die positive Grundhaltung nicht gewichen. Erst seit drei Wochen gibt es mehr Bären als Bullen und das seit 18 Monaten Bärenmarkt. Die Anleger beginnen offenbar gerade eben zu merken, daß etwas nicht mehr stimmt mit der heilen Welt stetig steigender Aktienkurse. Mit anderen Worten: Die bisherige Dynamik des Sentiment sagt uns, daß der Bärenmarkt noch in seinen Anfängen steckt. Dies läßt für den weiteren Kursverlauf nichts Gutes ahnen.
Das Argument, es könne doch so kommen wie ab Oktober 1998, als zusätzliche Greenspan’sche Liquidität die Kurse neu anfachte, steht auf tönernen Füßen. Die letzten beiden Zinssenkungen der US Fed zeitigten nicht die erhoffte Wirkung. Stattdessen plant man in den USA die Auflage mehrerer Konjunkturprogramme im drei-stelligen Milliarden Bereich. Ein Vergleich mit der deflationären Lähmung Japans drängt sich mehr und mehr auf. Weltweit synchron zurückgehende Kapazitätsauslastungen auf ohnehin nur mäßigem Niveau lassen für Unternehmensgewinne Rückgänge erwarten. 1998 sah die Verfassung der Weltwirtschaft noch anders aus, von Rezession war keine Spur zu sehen, im Gegenteil: die New Economy zog frei werdende Kapazitäten in ihren Sog. Dieser Motor fällt heute weg, im Gegenteil, er wird zur Bremse, betrachtet man die Massenentlassungen in der High-Tech-Branche.
Wegen der genannten realwirtschaftlichen Gründe, der trotz Ankündigung ausbleibenden Wirkung der Zinspolitik und dem Beginn einer staatlich gesteuerten Konjunkturpolitik und der sich abzeichnenden New Recession (ehemals New Economy) sind für die Unternehmensgewinne und das Wirtschaftsklima vornehmlich nach unten gerichtete Impulse zu erwarten. Das aktuelle Kaufsignal aus dem Sentiment könnte nur kurzfristig, auf Sicht weniger Wochen, wirken. Was dann kommen könnte, faßte Herr Köhler, der derzeitige Chef des Internationalen Währungsfonds trefflich zusammen, es bestehe die Gefahr einer dynamischen Abwärtsspirale.
Wer vor dem Hintergrund der skizzierten Lage noch Aktien hält, geht das Risiko erheblicher Vermögenseinbußen ein. Das gleiche gilt für Aktienfondsanteile mit der Ausnahme von Garantiefonds, speziellen Seitwärtsfonds sowie ausgewählter Branchenfonds wie Rohstoffe und Minen.
Felix Pieplow/Büro Dr.Schulz
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