Haushaltspolitik
Deutschland einig Schuldenland Von Markus Zydra 29. Jan. 2002 Im Bundesfinanzministerium grassiert die Angst vor einer Blamage. Die EU-Kommission könnte sich am Mittwoch darauf einigen, Deutschland einen „blauen Brief“ zu schicken. Der Grund: Das deutsche Haushaltsdefizit nähert sich bedenklich der Konvergenzobergrenze von drei Prozent des Bruttoinlandprodukts. Bislang hat die EU-Kommission nur gegen Irland eine solche Mahnung ausgesprochen. Peinlich für Deutschland, denn gerade Ex-Finanzminister Waigel hatte sich immer wieder für eine strikte Erfüllung der Maastricht-Kriterien ausgesprochen.
Der jetzt amtierende Finanzminister Hans Eichel wehrt sich. „Wir machen keine verfehlte Wirtschaftspolitik“, lehnt er die Vorwürfe ab. Doch gerade kleinere EU-Staaten wollen nun die Daumenschraube anziehen - auch um dem großen Deutschland die Maßstäbe anzulegen, die eben gerade immer in Berlin mit Fingerzeig auf andere Kantonisten formuliert wurden. Auch wenn dann später die Abmahnung vom EU-Ministerrat wieder gekippt würde - Deutschland steckt in der Schuldenfalle.
Deutschland in der Schuldenfalle
Dabei geht es weniger um die aktuelle Diskussion, ob und wie die amtierende Regierung das Haushaltsdefizit in diesem Jahr unter drei Prozent drücken kann. So etwas ist durch verschiedenste Tricks möglich. Viel wichtiger ist der Blick in die Zukunft, und da sieht es, vielfach unbeachtet, düster aus.
Eintausendzweihundert Milliarden Euro Schulden
Seit Anfang 2001 steigt die deutsche Staatsverschuldung pro Sekunde um 1.297 Euro. Die Gesamtsumme der Verbindlichkeiten von Bund, Ländern und Gemeinden beläuft sich auf 1.217 Milliarden Euro. Eine unvorstellbare Summe: Würde der Staat ab sofort keine neuen Verbindlichkeiten mehr aufnehmen und jeden Monat eine Milliarde Euro tilgen, dann, ja dann, wären wir in rund 100 Jahren schuldenfrei, hat der Bund der Steuerzahler errechnet.
Alles wird schlimmer
Doch ohne Neuverschuldung geht es offenbar nicht, wie die derzeitige Situation unterstreicht. Ein Grund sind die Schulden selbst: Gut ein Viertel des jährlichen Haushalts geht für Kreditzinsen drauf - damit ist noch kein Euro getilgt. Die Staatsschulden engen die Spielräume der Politiker immer mehr ein, und aufgrund der demografischen Entwicklung und der Untauglichkeit der aktuellen Sozialversicherungssysteme wird alles noch schlimmer, wie der Wissenschaftliche Beirat des Bundesfinanzministerium schon lange anmahnt.
Bürger haben Ansprüche auf Renten
Hintergrund sind die unverbrieften Ansprüche der heutigen Beitragszahler auf zukünftige Renten-, Kranken- und Pflegeversicherungszahlungen. Unverbrieft deshalb, weil die Höhe der Leistungen per Gesetz verändert werden kann, was allerdings politisch schwer durchsetzbar ist. Schließlich will ein heute Dreißigjähriger auf diese Leistungen auch mit 60 noch zurückgreifen. Aufgrund der Überalterung der deutschen Gesellschaft kommt es zu der so genannten Nachhaltigkeitslücke im Staatshaushalt. Immer weniger Beitragszahlern steht eine höhere Zahl von Leistungsempfängern gegenüber.
Mehr Schulden als im Bundeshaushalt zu sehen
Die Ansprüche dieser neuen Alten ab 2030 sind nicht im Bundeshaushalt aufgeführt, vor allem weil eine genaue Definition der Forderungen schwierig ist: Die OECD etwa kam in einer Studie zu dem Ergebnis, dass die Nachhaltigkeitslücke in Jahresraten übertragen entweder bedeutet, die Einnahmen aller Gebietskörperschaften einschließlich Sozialversicherung jährlich um drei Prozentpunkte des BIP zu erhöhen oder die Ausgaben entsprechend zu senken. Die Bundesbank gibt in ihrer Studie gar die doppelten Werte an. „Bei der Bezifferung muss man also vorsichtig sein. Es gibt aber eine Tendenz, und die ist besorgniserregend genug“, sagt Professorin Helga Pollak, Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats.
Standard&Poor´s warnt vor Schuldenexplosion
Die Ratingagentur Standard&Poor´s (S&P) prognostiziert gar, dass die durchschnittliche Verschuldungsquote in den EU-Ländern bis zum Jahr 2050 auf 150 Prozent des BIP ansteigen könnte, bei jährlichen Haushaltsdefiziten von zehn Prozent. Für Deutschland erwartet S&P gar eine wesentlich drastischere Zuspitzung. Das klingt weit weg, doch schon ab 2020 würde die Verschlechterung exponential ansteigen.
Ein Beispiel: Bund, Länder und Gemeinden beschäftigen 1998 direkt und mittelbar rund 6,4 Millionen Menschen. Die Altersversorgung der über 800.000 Versorgungsempfänger - vor allem pensionierte Beamte - kostete 1997 gut 20 Milliarden Euro. Die Zahl der Empfänger steigt bis 2023 auf 1,3 Millionen, und im Jahr 2040 werden die Versorgungsausgaben auf 81 Milliarden Euro ansteigen, wie der Bund der Steuerzahler bemerkt: Das ist die doppelte Summe des diesjährigen Haushaltsdefizits.
Kurzfristige Schulden erhöhen Risiko
Nun soll eine neue Schuldenverwaltungsstrategie helfen: Der Bund will seine Verpflichtungen umschichten und in diesem Jahr vermehrt auf kurzfristige Kredite setzen. Der derzeit niedrige Zinssatz wird so besser ausgenutzt. Doch der Bundesrechnungshof sieht hier große Gefahrenpotenziale. Die Zinsänderungsrisiken könnten den möglichen Einspareffekt bei weitem übertreffen, da alle Schuldtitel zum Ende ihrer Laufzeit zu den dann geltenden Marktsätzen, die deutlich höher liegen könnten, anschlussfinanziert werden müssen.
Die Schulden müssen runter - Vorbild Schweden
„Wer Schulden hat, der ist nicht frei“, überschrieb der schwedische Premierminister Göran Persson 1996 sein Buch. Der Sozialdemokrat deckelte die Staatsausgaben, nahm keine Neuverschuldung in Kauf, führte für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall einen Karenztag ein, reformierte das Rentensystem. Es waren unpopuläre Maßnahmen - aber er konnte die Wähler überzeugen, wie seine Wiederwahl zeigte. Ein Weg für Deutschland?
Text: @zyd Bildmaterial: ddp FAZ.NET
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