Nikodemus erinnert sich an einen seiner ersten Konfirmanden-Kurse. Von den zwölf deutschen Schülern gingen sieben auf die Haupt- und fünf auf die Sonderschule. Zwei von ihnen konnten kein einziges Wort lesen. Pisa lässt grüßen.
Der Studie zufolge ist der Zugang zu Bildung in keinem anderen Land Europas so sehr von der sozialen Herkunft abhängig wie in Deutschland. Und die Deutschen von Bruckhausen sind außer ein paar Rentnern Sozialhilfe-Empfänger, Arbeitslose und deren Kinder.
„Manche von denen haben nie erlebt, dass man nach dem Aufstehen zur Arbeit geht, um Geld zu verdienen“, sagt Nikodemus. Auch Kevins Eltern haben keine Arbeit.
Bruckhausen ist das perfekte Ghetto.
Sagen die Deutschen, die hier nicht leben. Im Westen, Norden und Osten hat ein Stahlwerk von Thyssen-Krupp die 7500 Einwohner des Stadtteils förmlich in die Zange genommen.
Im Süden trennt die A42 das Viertel vom Rest der Stadt. An manchen Tagen hängt in den Straßenschluchten ein schwerer süßlicher Geruch. Dabei hat Thyssen die alte Kokerei im Frühjahr dichtgemacht und durch eine neue im Norden Duisburgs ersetzt.
Bruckhausen, das ist ein Teil des Ruhrgebiets, den man als längst vergangen ansah. Gut geeignet für finstere Szenen in Schimanski-Tatorten.
Wer hier das erste Mal hinkommt, den lässt die Kulisse nicht unberührt. So muss es wohl auch Bundesbauminister Manfred Stolpe ergangen sein, als er neulich auf einer Stippvisite durch den Pott auch hier war.
Hinterher sprach er jedenfalls davon, dass ihn das Thema Migration besonders beschäftigt habe.
Zu Recht. Studien verschiedener Forschungsinstitute ergeben, dass sich der Anteil von Menschen mit „Migrationshintergrund“, wie es heißt, im Ruhrgebiet kontinuierlich erhöht.
Weil immer mehr Menschen die Stadtzentren in Richtung Umland verlassen, bleiben jene zurück, die nicht gehen können oder wollen.
In Duisburg-Bruckhausen lässt sich wie unter der Lupe studieren, was aus solchen Stadtteilen trotz Landeszuschüssen werden kann.
Über Jahre haben sich Städteplaner die Zähne an dem Viertel ausgebissen. Am Ende war die Frage: Plattmachen oder Alibi-Förderung. Das Land entschied sich für die harmlose Variante.
NRW-Städtebauminister Michael Vesper überzeugte sich erst am vorigen Mittwoch persönlich von der erfolgreichen Arbeit des Stadtteilbüros.
Bruckhausen wurde zu dem, was es ist, weil Anfang der Siebziger, als es der Stahlindustrie gut ging, Thyssen das Werk weiter ausbauen und den Ort zum Teil abreißen wollte.
Noch heute gehören dem Konzern etwa ein Drittel der Wohnungen. Viele der Alteingesessenen verließen daher das Viertel. Doch dann brach Mitte der Siebziger die Rezession herein, der Konzern blies das Projekt ab, und vor allem Türken zogen in die leeren Wohnungen.
Deutsche als Sozialfälle Inzwischen liegt der Anteil der Ausländer der zweiten oder dritten Generation bei 65 Prozent; unter den Deutschen, die blieben, sind überproportional viele Sozialfälle.
Türkische Schriftzüge preisen das Reisebüro, den Friseur oder den Lebensmittelladen an.
Fast alle Frauen auf der Straße tragen Kopftuch. „Deutsch brauchen sie hier nicht sprechen zu können“, sagt Edeltraud Klabuhn, Leiterin des Stadtteilbüros der Duisburger Entwicklungsgesellschaft. Beim Fischhändler und im Supermarkt erschwert es sogar den Kauf.
Doch dass die Türken von Bruckhausen eine homogene Gruppe bilden und ein traditionell-konservatives Leben führen, ist nur ein Grund, warum die Integration so schwer fällt. Den anderen formuliert Nikodemus hart: „Die deutsche Bevölkerung ist schlicht nicht integrationsfähig.“ Nikodemus meint das nicht abfällig.
Er ist nur überzeugt, dass Integration Bildung und Sprache voraussetzt.
Manchmal fehlt die Sprache aber im wahrsten Sinn des Wortes: Hilchert erinnert sich an ein Mädchen im Kindergarten, das nie den Mund aufmachte, weil es faule Zähne hatte und sich deswegen schämte. Andere Kinder haben das Wort Kuh noch nie gehört.
„Ratte“ und „Kakerlake“ würden sie dagegen kennen, erzählt Hirchert Als sie einmal die Mütter einlud, gemeinsam ein Müsli mit Früchten für die Kinder zuzubereiten, schnipselte eine der deutschen Frauen die Mangos und Kiwis samt Schale in den Becher. Hirchert: „Sie kannte die Früchte nicht.“
Nicht nur wegen dieser Schmach laufen die deutschen und türkischen Müttergruppen im Kindergarten inzwischen getrennt.
Eine andere Deutsche hatte sich gedemütigt gefühlt, weil sie es sich im Gegensatz zu den Türkinnen nicht leisten konnte, etwas zur Frühstückskasse beizusteuern. Die deutschen Frauen, sagt Hirchert, könnten auch nicht wie die Türkinnen kochen, nähen oder einen Kuchen backen.
Ratten auf den Kleiderbergen „Eines unserer wichtigsten Ziele ist deshalb, die deutsche Bevölkerung zu stabilisieren“, sagt Edeltraud Klabuhn.
Ihr Stadtteilbüro sei auch dazu da, den Deutschen das Unterlegenheitsgefühl zu nehmen, ihnen Wissen zu vermitteln, wonach sie ganz begierig seien, und Wege aus der Hoffnungslosigkeit aufzuzeigen.
Bei Eberhard Marx ist das gelungen. Zeit seines Lebens hatte der 52-Jährige nur Jobs, nie eine regelmäßige Arbeit. Als sich seine Frau von ihm scheiden ließ, verwahrloste er, hauste in einer Wohnung mit Schimmel an den Wänden. Ratten liefen über seine Kleiderberge, erzählt eine Bekannte.
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