Neukölln ist kein Einzelfall
Die Deutschen haben die Probleme mit den muslimischen Einwanderern verdrängt. Erst jetzt entdecken sie die Pflicht zur Integration
Von Markus Wehner
Berlin. "Eh, Mann, das ist der Getto-Beat. Komm nach Neukölln, ich zeig dir, wo das Getto liegt", singt der junge Türke und schnippt rhythmisch mit den Fingern. Seine modische Jacke, seine mit Gel gestylten Haare und sein Rap-Song, den er vor der Neuköllner Rütli-Schule ins Mikrofon eines Reporters stammelt, zeigen, daß er der Coolste seiner Clique ist. Als Beispiel halbwegs gelungener sprachlicher Integration könnten der Rapper und die Hymne auf das Getto gelten. Doch der Anlaß seines Auftritts zeugt vom Gegenteil. Die Lehrer seiner Schule haben, erstmals in Deutschland, für deren Auflösung gestimmt. Sie kapitulieren vor fehlenden Deutschkenntnissen, vor der Respektlosigkeit und Gewalt ihrer türkischen und arabischen Schüler. Die sind fast alle in Deutschland geboren und doch nie in ihm angekommen.
Alles nur ein Einzelfall, in einem "umgekippten" Stadtteil, der mit der deutschen Wirklichkeit wenig zu tun hat? "Es ist ein Sonderfall, aber kein Einzelfall", sagt Maria Böhmer, die Integrationsbeauftragte im Kanzleramt, die dieser Tage gefragt ist wie nicht zuvor in den wenigen Monaten ihrer Amtszeit. Freilich, die Berliner Innenstadtbezirke sind ein besonders schwieriges Feld: In Neukölln, Kreuzberg, Tiergarten und im Wedding stellen die Schüler "mit Migrationshintergrund" in drei Vierteln der Schulen die Mehrheit. In der Rütli-Schule waren es vor zehn Jahren 40 Prozent - heute sind es mehr als 80 Prozent. In der Kreuzberger Eberhard-Klein-Schule gibt es schon keinen einzigen deutschen Schüler mehr. Im Neuköllner Norden verläßt ein Drittel der Schüler aus Migrantenfamilien die Schule ohne Abschluß.
Doch Neukölln, wo die Kopftuch tragenden Frauen und Mädchen und die türkischen Jungs mit Baseballkappen das Straßenbild prägen, ist näher an Deutschland, als man denkt. Bundesweit schaffen 20 Prozent der Migrantenkinder keinen Schulabschluß. Kaum jemand kommt bis zur Universität. Die Zahl von 30 000 türkischen Studierenden, die Politiker gern zitieren, ist lächerlich gering bei fast zwei Millionen Türken in Deutschland. Mehr als 40 Prozent der Ausländer zwischen 20 und 29 Jahren haben keinen Berufsabschluß - bei den Deutschen sind es schon skandalöse zwölf Prozent. Die Arbeitslosigkeit bei Ausländern ist doppelt so hoch wie bei den Deutschen, in Berlin liegt die Quote bei 48 Prozent.
Die Deutschen wollten diese Probleme über Jahre nicht wahrhaben. "Ein Getto muß doch kein Slum sein", sagte vor acht Jahren die damalige Sozialstadträtin in Kreuzberg, Ingeborg Junge-Reyer von der SPD, heute Senatorin für Stadtentwicklung. Statt einer Integration, die vermeintlich zwanghafte Anpassung bedeutete, setzten linke Sozialpolitiker auf die Romantik eines vermeintlich friedlichen Nebeneinanders der Kulturen. Die Grünen sahen in jedem Abschieben von Asylbewerbern ein Verbrechen, idealisierten die Ausländer, wie es die Linkspartei heute noch tut. Und die Union verpaßte es, während sie die Zuwanderung hinnahm, Deutschland als das zu akzeptieren, was es war: ein Einwanderungsland, "mit dem höchsten Nettogewinn an Migranten" in Europa, wie es im Amtsdeutsch heißt. "Da haben wir die Wirklichkeit ein Stück weit ausgeblendet", gibt die Integrationsbeauftragte Böhmer zu und verweist darauf, daß wir in Deutschland nicht nur sieben Millionen Ausländer, sondern 14 Millionen Menschen "mit Migrationshintergrund" haben.
Dabei haben die Deutschen die "Ausländer" meist mit scheinbarer Toleranz behandelt. Doch sie war nichts anderes als Gleichgültigkeit und die Scheu, sich mit den Migranten, vor allem den muslimischen, zu befassen, auch anzulegen. Man ließ sie statt dessen links liegen, und sie schotteten sich ab in ihrer Welt. Das Ergebnis dieser gegenseitigen Ignoranz kann man in den Statistiken von Polizei und Staatsanwaltschaft ablesen. Unter den ermittelten Tatverdächtigen sind Ausländer bundesweit mehr als doppelt so stark vertreten wie Deutsche.
In Berlin sind 80 Prozent der jugendlichen Intensivtäter Ausländer oder Deutsche mit Migrantenhintergrund. Bei den 400 mehrfach überführten Straßenräubern und Schlägern in der Hauptstadt sind 70 Prozent Muslime. Die Kriminalität rußlanddeutscher jugendlicher Straftäter kommt in diesen Statistiken nicht vor. Schon heute ist fast jeder fünfte Gefängnisinsasse in Deutschland ein Aussiedler. Immer öfter bekriegen sich ethnisch homogene Gruppen der Türken, Araber oder "Russen".
Die Deutschen haben auf die Gettoisierung, auf Gewalt und Verwahrlosung mit Rückzug reagiert. Wenn die Ausländer zu viele werden, suchen sie das Weite, ziehen weg aus dem Stadtviertel, schicken zumindest ihre Kinder in anderen Bezirken zur Schule. So tun es auch die Migranten, die leben wollen wie die Deutschen. Türken, die Abitur haben, unterscheiden sich in ihren Lebensplanungen kaum von ihren deutschen Altersgenossen.
Dieser Rückzug trägt dazu bei, daß die öffentliche Ordnung in den Bezirken zerfällt. In Berlin klagen Staatsanwälte darüber, daß die Deutschen für muslimische Gewalttäter und deren Familien "vogelfrei" seien. Ein schlechtes Gewissen sei bei den Tätern kaum mehr festzustellen, ebensowenig wie Respekt vor den Deutschen und westlichen Werten. Eine Einwirkung über die Eltern ist kaum möglich, 80 Prozent kommen nicht einmal zu den Gerichtsverhandlungen gegen ihre Kinder. Lehrer berichten davon, daß Kolleginnen als "deutsche Schlampe" betitelt werden, das Schimpfwort "Schweinefleischfresser" für deutsche Schüler ist verbreitet.
Eine Politik der "Null-Toleranz" bei Verstößen an den Schulen fordert der Pädagoge Helge Dietrich, der vor der Rütli-Schule Solidarität mit den Kollegen demonstriert. "Vor allem müßte man wieder zu Werten erziehen", sagt der Landesvorsitzende des Verbands Bildung und Erziehung (VBE), doch der Senat habe den Religionsunterricht abgeschafft zugunsten eines Ethik-Unterrichts, von dem keiner wisse, wie er aussehen soll. "Wie soll man zu Werten erziehen in einer Gesellschaft, die sich als multikulturell, also als multiwertig versteht?" fragt Dietrich, der an einer Gesamtschule arbeitet.
Doch mehren sich Anzeichen, das Laisser-faire könnte zu Ende gehen in der deutschen Integrationspolitik, die bisher diesen Namen kaum verdiente. Das Zuwanderungsgesetz, mit mindestens zehn Jahren Verspätung beschlossen, legt erstmals das Ziel der Integration fest. Und - Ironie der Geschichte - gerade die Kanzlerin der Union hat erstmals eine Staatsministerin im Kanzleramt für die Aufgabe der Integration ernannt. Seit vergangenem Jahr werden Integrationskurse organisiert, für neu ankommende Migranten und für die "Bestandsausländer", die eine "nachholende Integration" vollziehen sollen. Mehr als 200 000 Migranten haben im vergangenen Jahr diese Kurse, bestehend aus 600 Stunden Deutschunterricht und 30 Stunden Gesellschaftskunde, besucht, die meisten freiwillig, bei einer Minderheit wurden sie von der Ausländerbehörde angeordnet. Fast zwei Drittel derer, die teilnahmen, sind Frauen.
Zudem setzt sich der Gedanke durch, daß es eine Pflicht zur Integration gibt. "Wenn nötig, werden wir auch die Verpflichtung zu Integrationskursen ausweiten", sagt Maria Böhmer. Innenminister Wolfgang Schäuble denkt darüber nach, wie man Eltern jugendlicher Migranten, die ihren Kindern keine Chance auf Bildung und keine Berufsperspektive geben, mit Sanktionen dazu bringen kann, ihren elterlichen Pflichten nachzukommen. Der Staat, so beginnt man zu begreifen, muß Integration verlangen. Ob man den Mut hat, diese Einsicht auch gesetzgeberisch durchzusetzen, bleibt fraglich.
In den deutschen Großstädten werden, so sagt der Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birg, schon 2010 die Migranten unter 40 Jahren die Mehrheit der Einwohner stellen. Es wird für die Deutschen darauf ankommen, daß zumindest die Mehrheit dieser Mehrheit nicht als gesellschaftliche Verlierer dasteht, den Deutschen nicht feindlich gesinnt ist, sondern daß sich möglichst viele aus Überzeugung einbürgern lassen. Dafür müssen Migrantenkinder im Kindergarten Deutsch lernen, die Eltern müssen mit - zumindest sprachlicher - Integration, wenn es sein muß, zwangsbeglückt werden. Ansonsten werden Generationen von Migrantenkindern ohne Schulabschluß und Arbeit die Sozialsysteme belasten, die Gewalt jugendlicher Migranten wird zunehmen, Parallelwelten werden sich verfestigen und neue entstehen. Das kann sich Deutschland nicht leisten. Wenn der Fußballer Gerald Asamoah mit dem Satz "Du bist Deutschland" wirbt, ist das eine schöne Geste - mehr nicht.
Wer aber Integration weiter als nette Veranstaltung verkaufen will, hat nichts begriffen.
Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 02.04.2006, Nr. 13 / Seite 3
MfG§ kiiwii
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