Westeuropa ist um einen Mythos ärmer. Die Niederlande als Hort toleranter Multikulturalität sind durch einen geradezu bestialischen Mord endgültig aus der Illusion gerissen worden, ein Modell für das friedliche Zusammenleben verschiedener Rassen und Religionen gefunden zu haben. Bereits vor zweieinhalb Jahren hatte der gewaltsame Tod des populistischen Senkrechtstarters Pim Fortuyn das Land aufgeschreckt. Aber das Profil des damaligen Täters erlaubte es den Niederländern noch, sich hinter falsche Schlussfolgerungen zu flüchten oder am besten gar keine zu ziehen. Seit man hingegen den Täter gefasst hat, der den Filmemacher Theo van Gogh in dessen Amsterdamer Wohnquartier niederschoss und zu Tode stach, weiss die Nation, dass ihre ehedem so hoch gelobte Integrationspolitik gescheitert ist. Das niederländische Modell war nichts anderes als ein Trugbild idealistischer Gesellschaftsentwürfe, die der Realität einer stark gewandelten Immigration längst nicht mehr gerecht wurden.
Mit Entsetzen liest man jetzt die Biografie eines jungen Muslims marokkanischer Herkunft, dessen Jugend eigentlich perfekt ins Musterbuch einer erfolgreichen Integration hätte passen müssen. Der Mann war in Amsterdam geboren worden und dort aufgewachsen, Niederländisch war seine zweite Muttersprache, er hatte eine gute Ausbildung und schien die besten Chancen zu haben, den Graben zwischen der schlecht integrierten Minderheit aus dem Maghreb und der niederländischen Mehrheit zu überwinden. Weshalb er sich mit der Zeit aus seinem Freundeskreis zurückzog und sich immer mehr in das Umfeld einer Moschee in Amsterdam begab, wird noch Anlass zu genauen Abklärungen sein. Jedenfalls zogen ihn islamistische Lehrsätze immer mehr in ihren Bann, aus denen er die Verpflichtung abzuleiten begann, die säkulare und liberale Gesellschaft der Niederlande zu bekämpfen. Hass und Fanatismus schienen ihn zuletzt zu dem Mord an Theo van Gogh förmlich getrieben zu haben.
Dieser van Gogh mochte ein Demagoge, ein übler und vulgärer Verleumder gewesen sein. Aber gerade weil er seine ätzende Kritik gleichermassen versprühte und Übelstände jedweder Art anprangerte, spiegelte er jene Liberalität wider, die die niederländische Toleranz kennzeichnet. Der Schriftsteller Leon de Winter umreisst dies treffend in einem Essay in der «Weltwoche». Er schildert dort, wie er als Jude von van Gogh verunglimpft worden sei, wie er aber dennoch stets zwischen Form und Inhalt solcher Anrempelungen unterschieden habe und zum Schluss gekommen sei, dass van Gogh letztlich für die Meinungsfreiheit gekämpft habe. So habe er, de Winter, van Goghs jüngsten Film, der sich provokativ mit der Unterdrückung der Frauen im islamischen Alltag auseinandersetzt, positiv aufgenommen.
Diese Meinungsfreiheit war aus der Sicht Theo van Goghs vor allem seit der Ermordung Pim Fortuyns immer mehr durch islamistische Intoleranz bedroht - in Formen, die durchaus lebensbedrohenden Charakter annahmen. In der Tat haben verschiedene Figuren des öffentlichen Lebens in den Niederlanden seit einiger Zeit nur noch versteckt und unter Polizeischutz leben können, weil sie einer glaubwürdigen Bedrohung durch islamistische Fanatiker ausgesetzt waren.
De Winter ist nicht der Einzige, der zum Schluss gekommen ist, dass radikale Muslime und radikale Demokraten nicht zusammenleben können. Folglich wird man sich in den Niederlanden nun immer mehr die grundsätzliche Frage stellen, wie weit die Ansprüche einer eingewanderten Minderheit im Gegensatz zu jenen der angestammten Mehrheit stehen dürfen. Die herkömmlichen multikulturellen Maximen waren davon ausgegangen, dass fremde Kulturen nicht nur bereichernd auf die einheimische wirken, sondern auch nach Kräften gefördert werden sollten. Es zeigt sich freilich immer mehr, dass diese Förderung nur unzureichend wirkt, wenn auf der Seite der Immigranten nicht die Bereitschaft besteht, sich zu integrieren. Es gibt auch durchaus Anhaltspunkte dafür, dass eine so grosszügige soziale Unterstützung für Einwanderer wie in den Niederlanden die Neigung zur Assimilation eher noch verringert.
Neue Ansätze sind also gefragt. In einer Marathondebatte am Freitag im niederländischen Parlament ging es vor allem um den Umgang mit dem islamischen Extremismus. Der Betrieb der Moscheen und Schulen soll schärfer überwacht werden, radikale Prediger sollen keinen Zugang mehr erhalten. Schwieriger wird die Beantwortung der Frage sein, ob die Integration von Trägern einer andern Kultur notfalls erzwungen werden muss - etwa durch obligatorische Sprachkurse gerade auch für Frauen oder durch neue Schulformen, die verhindern, dass von einer spezifischen Gruppe wie den jungen Marokkanern fast die Hälfte ohne Schulabschluss im Lande herumhängt. Auch das ist eine der Kehrseiten der Toleranz, die zumindest in den Niederlanden in eine Sackgasse geführt hat. Zum Prinzip der Förderung wird also wohl immer mehr auch das Prinzip der Forderung gegenüber den Immigranten kommen - in einem Ausmass, das noch nicht abzusehen ist.
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