Ifo-Chef Sinn spricht von scharfer Rezession
Berlin (Reuters) - Das Münchener Ifo-Institut sieht Deutschland in der tiefsten Wirtschaftskrise seit mindestens 20 Jahren. Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn sagte am Montag in Berlin: "Wir sind derzeit in einer Rezession, die so scharf ist wahrscheinlich wie die von 1981." Damit verwies er auf die zweite Ölpreiskrise. Sinn forderte die Bundesregierung auf, formell eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts festzustellen und so den Weg freizumachen für staatliche Investitionshilfen. Ein Sprecher des Finanzministeriums nannte die Forderung abwegig. Zudem bezeichnete das Ministerium einen Zeitungsbericht als Spekulation, wonach die Regierung ihre Wachstumsprognose 2002 abermals nach unten korrigieren wird. Man bleibe bei der Erwartung von rund 1,25 Prozent Zuwachs, hieß es. Ifo-Präsident Sinn sprach dagegen von einer Rezession und verwies als Beleg auf Erkenntnisse seines Instituts und anderer Wirtschaftsforscher. So sei der Ifo-Geschäftsklimaindex so stark gefallen wie seit der ersten Ölkrise 1973 nicht mehr. Auch der mit anderen Forschungsinstituten errechnete Index für das weltweite Wirtschaftsklima sei so niedrig wie noch nie seit seiner Erhebung 1981. Sinn sagte zudem voraus, dass die Arbeitslosigkeit im November und auch darüber hinaus saisonal weiter steigen werde. Am Arbeitsmarkt werde es erst wieder im zweiten Halbjahr 2002 aufwärts gehen. Die Wachstumsprognose der sechs führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute von 1,3 Prozent für das nächste Jahr muss nach Sinns Worten auf alle Fälle gesenkt werden. Diese Prognose sei kurz nach den Anschlägen vom 11. September angefertigt worden. Inzwischen hätten sich viele Risiken als Lasten bewahrheitet. Daher müsse schnell gehandelt werden. Sinn schlug vor, nach dem Stabilitäts- und Wachstumsgesetz von 1967 die Störung des gesamtwirtschaftliche Gleichgewichts aus Vollbeschäftigung, Preisstabilität, außenwirtschaftlichem Gleichgewicht und angemessenem Wachstum festzustellen. Damit hätte der Finanzminister die Möglichkeit, die Konsolidierung zu lockern und staatliche Investitionshilfen zu gewähren. Solche Hilfen wären nach Sinns Worten umso wünschenswerter, als sie bei den Investitionen ansetzten und schnell Breitenwirkung hätten. Zudem sprach sich Sinn für vorgezogene Steuersenkungen aus. Ein Sprecher des Finanzministeriums nannte die Forderung des Ifo-Präsidenten abwegig. Er führte unter anderem an, dass die Inflationsrate derzeit rückläufig sei, was mittelfristig auch für die Arbeitslosenzahlen gelte. Zudem sei das Wirtschaftswachstum mit erwarteten rund 1,25 Prozent im nächsten Jahr etwa so stark wie im Durchschnitt der 90er Jahre. Warum angesichts dessen gerade jetzt das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht gestört sein solle, sei kaum nachvollziehbar. Bundesfinanzminister Hans Eichel (SPD) erläutert nach Angaben seines Ministeriums am Montag und Dienstag in Brüssel seinen Kollegen in der Euro-Zone die Wachstumsprognose der Regierung und die erwartete Haushaltsentwicklung. Erst vor wenigen Tagen hatte der Finanzplanungsrat vorausgesagt, das deutsche Staatsdefizit werde sich in diesem Jahr auf 2,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes und im nächsten Jahr auf 2,0 Prozent belaufen, erheblich mehr als ursprünglich erwartet. Einen Bericht der "Financial Times Deutschland", wonach die Bundesregierung voraussichtlich im Jahreswirtschaftsbericht im Januar ihre Wachstumsprognose für 2002 auf rund ein nach derzeit 1,25 Prozent zurücknehmen werde, nannte das Finanzministerium reine Spekulation. Die Regierung halte an ihrer Prognose fest. Das Stabilitätsprogramm für die EU-Kommission, das dem Kabinett am Mittwoch vorgelegt werde, umfasse allerdings ein alternatives Szenario für den Fall, dass sich die Wirtschaft schlechter als erwartet entwickle. Dann könnte es bis 2006 dauern, bis das derzeit für 2004 angestrebte Ziel eines ausgeglichenen Staatshaushalts erreicht werde. Wirtschaftsminister Werner Müller (parteilos) sprach von einer wirtschaftlich nicht sehr günstigen Entwicklung in Deutschland. Mit Blick auf die abnehmenden Geburtenziffern und die daraus folgenden Probleme sagte er, Kernaufgaben für die langfristige Zukunft seien die Entschuldung des Staates und die Lösung der Probleme am Arbeitsmarkt.
Quelle: Süddeutsche Zeitung
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