Die Zeit läuft ab
Deutschland trennt den Müll, spart Wasser und Öl - und verschwendet doch seine wichtigste Ressource: die Zeit
Haben Sie, verehrter Leser, eben mal zehn Stunden Zeit? Der Sonntag ist dann zwar gelaufen, aber das ist, ehrlich gesagt, auch der Sinn der Sache. Sie haben danach einen ziemlich guten - sagen wir es in der Sprache der Untersuchungsausschüsse - "Sachstand" darüber, was mit Ihnen seit ein paar Jahren geschieht. Sie wissen nicht, wie man zehn Stunden hergibt? Das geht so: zehn Stunden diszipliniert Ludger Volmer auf Video schauen, dabei alle Vorräte aufessen und dann am Abend sich ärgern, daß Vorräte und Freunde weg sind und der Sonntag vollständig und unwiederbringlich vergeudet ist.
Nichts gibt das Gefühl verlorener Lebenszeit authentischer wieder als die Befragung des ehemaligen Staatsministers Ludger Volmer. Wäre es eine Parodie, sie würde wegen Unglaubwürdigkeit zurückgewiesen. Zehn Stunden lang erklärte der Ex-Minister, daß seine Funktion darin bestand, nichts getan, nichts zu tun gedurft oder zu tun gehabt zu haben. Und wir erlebten Politiker, die zehn Stunden nichts anderes taten, als über das Nichtstun zu reden. Und zwar so, daß jede Frage die nächste neutralisierte. Klar, ein Staatsminister "darf ja nichts tun". Aber ein bißchen kann er doch, meint die Gegenseite. Aber weiß er denn wenigstens, was er nicht getan hat? Hätte er tun können, was er nicht gewußt hat, oder hat er nur so getan, als habe er nichts gewußt? Tut er nur so, oder weiß er es nicht besser? Und was tun eigentlich die Ausschußmitglieder, wovon wir nichts wissen?
"Weiß da überhaupt noch irgendeiner in solch einer Sitzung, wovon er spricht?" fragte der NDR den SPD-Obmann Olaf Scholz, und der antwortete mit der Euphorie des Erschöpften: "Am Ende wurde es bei dem einen oder anderen ganz schwierig. Aber insgesamt, glaube ich, hat es gut funktioniert."
Zehn Stunden sind lang. In zehn Stunden hat Kafka eine seiner besten Erzählungen geschrieben. Zehn Stunden täglich hat Karl Marx an seinem "Kapital" gearbeitet. Und darin behauptet: "Arbeitet der Arbeiter zehn Stunden am Tag, dann arbeitet er sechs Stunden für seinen Lohn. In den verbliebenen vier Stunden arbeitet er nur für den Mehrwert, der vollständig dem Kapitalisten zufällt." Wofür arbeitet der Staatsminister, wenn er zehn Stunden am Tag arbeitet? Arbeitet er am Ende, in einem komplizierten dialektischen Prozeß, auch wieder fürs Nichtstun? "Nachdem ich zwanzig Jahre lang sechzig bis achtzig Stunden pro Woche für die Grünen gearbeitet habe, wende ich nun seit zwei Jahren fünf bis zehn Wochenstunden für den Aufbau einer beruflichen Alternative auf", schreibt der ehemalige Minister auf seiner Homepage, wo er der falschen Behauptung entgegentritt, er habe auch noch von einem anderen Auftraggeber, wörtlich: "fürs Nichtstun" 400000 Euro bekommen. Und die Ausschußmitglieder, die es, wie Obmann Scholz einräumt, am Ende "ganz schwierig" haben zu wissen, wovon sie reden, wofür arbeiten sie? Sie arbeiten ohne Zweifel sechs Stunden für die Wahrheit - und vier Stunden arbeiten sie für die Medien, die Partei und die Verwirrung.
Und wofür arbeiten wir? Die Abgabe, die wir zahlen, ist nicht nur Geld. Unsere Abgabe ist die Zeit. Die Staatsquote vereinnahmt diesen heute noch imaginären Wert wie ein böses Versprechen, das bald eingelöst werden wird. Schon die heute Vierzigjährigen haben das Gefühl des Zu-spät. Und die Zeitluke für die lebensnotwendigen Reformen schließt sich mit der Präzision eines Uhrwerks. Wenn wir zehn Stunden Politik, Aufmerksamkeit, Wahrheitsfindung d i e s e m Thema zuwenden, wieviel müßten wir der Aufklärung des anderen zuwenden?
Fast zur gleichen Zeit, zu welcher Ludger Volmer störrisch mit seinen Kollegen über Nichtstun und Nichtwissen debattierte, trat zehn Flugstunden entfernt ein neunundsiebzigjähriger Mann vor den amerikanischen Senat. In einer dramatischen und effektvollen Rede, die sofort um die Welt ging und schon wenige Stunden später in Australien kommentiert wurde, sprach Alan Greenspan nicht über Zinsen, auch nicht über Geld, sondern fast ausschließlich über eine der anderen Ressourcen: über die Zeit. Bereits 2008 wird in den Vereinigten Staaten die Vorhut der Baby-Boomer-Generation in Rente gehen. "Ich befürchte", sagte Greenspan, "daß wir der Baby-Boomer-Generation bereits mehr materielle Ressourcen für ihre Rentenzeit zur Verfügung gestellt haben, als unsere Wirtschaft überhaupt in der Lage ist aufzubringen. Wenn bereits existierende Versprechen verändert werden müssen, dann müssen diese Veränderungen so schnell wie möglich umgesetzt werden. Wir schulden es unseren künftigen Älteren, ihnen soviel Zeit wie nur irgend möglich zu geben, damit sie ihre Pläne darauf einstellen können."
Die knappste Ressource ist Zeit. Aber Deutschland sendet zehnstündige Verhöre mit einem Mann, den alle, einschließlich seiner selbst, für unwichtig halten, und ein CDU-Spitzenkandidat debattiert über die Überlegenheit des Christentums und ein SPD-Parteivorsitzender über den Kapitalismus. Es geht hier, um einen berühmten Satz zu zitieren, um Mietrecht in Häusern, die inzwischen vom Erdbeben zerstört sind. Schon heute ist sicher - um nur eine Beispiel zu nennen -, daß bereits in wenigen Jahren ein Wettlauf um die wenigen gut ausgebildeten jungen Menschen stattfinden wird, ein Wettlauf, bei dem womöglich der Mittelstand das Nachsehen haben wird. Schon heute ist sicher, daß die Geburtsjahrgänge jenseits des Jahres 1955 den Renteneintritt als eine andere Form der Arbeitslosigkeit empfinden könnten. Und ganz und gar unsicher ist, wie sich die Krankheits- und Pflegekosten entwickeln werden.
Der objektive Wahnsinn, nichts zu tun, aber über das Nichtstun stundenlang zu reden, ist viel schlimmer als die Bitte, mal eben zehn Stunden herzugeben - wir alle geben Jahre dran, Jahre, die wir nicht mehr ausgleichen können.
Es wiederholt sich für unsere Generation, was Stefan Zweig in der "Welt von gestern" beschrieb. Neidisch und wehmütig blicken wir auf die Welt der Sicherheit jener, die von den Leistungen der alten Bundesrepublik noch profitieren konnten. "Das Jahrhundert der Sicherheit", so Stefan Zweig über das späte neunzehnte Jahrhundert, "wurde das goldene Zeitalter des Versicherungswesens. Man assekurierte sein Haus gegen Feuer und Einbruch, sein Feld gegen Hagel und Wetterschaden, seinen Körper gegen Unfall und Krankheit, man kaufte sich Leibrenten für das Alter und legte den Mädchen eine Police in die Wiege für die künftige Mitgift. Schließlich organisierten sich sogar die Arbeiter, eroberten sich einen normalisierten Lohn und Krankenkassen, Dienstboten sparten sich eine Altersversicherung und zahlten im voraus ein in die Sterbekasse für ihr eigenes Begräbnis. Nur wer sorglos in die Zukunft blicken konnte, genoß mit gutem Gefühl die Zukunft."
Stefan Zweig konnte Abschied nehmen von der "Welt von Gestern", weil sie sichtbar zerstört und verschwunden war. Unser Abschied fällt schwerer. Wir können sicher sein: auch unsere Welt ist entschwunden. Aber daß fast genau hundert Jahre später, nach Inflation und Kriegen, das Ende dieses Zeitalters der Sicherheit ein zweites Mal angebrochen ist, muß kein Unglück sein. Es ist womöglich leichter, einen Neubeginn aus Trümmern zu beginnen als aus der Mitte einer Gesellschaft, in der, von außen betrachtet, noch alles irgendwie funktioniert. Wir Heutigen müssen erkennen lernen, daß die Jahre, die uns prägten und das Leben, das wir für selbstverständlich hielten, daß die Jahre zwischen 1960 und 1990 auch historisch einen vollständigen Ausnahmecharakter tragen. Umdenken, um das furchtbar abgedroschene Wort zu gebrauchen, heißt die Welt anders sehen. Nicht indem man sich schon Chips und Bier für die womöglich zwanzigstündige Befragung des mittlerweile in allen Zukunftsfragen unerheblichen Herrn Joschka Fischer besorgt. Sondern indem wir einen Bruchteil dieser Zeit jenen neunundvierzig jungen Bundestagsabgeordneten widmen, die sich in einer überparteilichen Initiative für die Verankerung der Generationengerechtigkeit im Grundgesetz ausgesprochen haben - jedenfalls solange auch die nicht schon zu Funktionären des Konformitätszwangs geworden sind. Warum überträgt hier das Fernsehen nicht? Wo sind die Jahrgänge 1960 bis 1980? Warum wird über Nichtwissen und Nichtstun, statt über Wissen und Tun geredet?
Was sind die Kollateralwirkungen der demographischen Revolution? Wie steht es um die Kreditwürdigkeit der westlichen Staaten, in zwei Jahrzehnten? Die Rating-Agentur Standard and Poors hat soeben berechnet, daß die Staatsverschuldung durch die Alterung der westlichen Gesellschaft so stark anwachsen könnte, daß die Kreditwürdigkeit eines Landes wie Deutschland auf den Status Jamaikas absinken könnte. Wo planen wir heute noch unter den Voraussetzungen einer wachsenden Bevölkerung? In Deutschland sind von Miegel bis Biedenkopf kohärente Forderungen formuliert worden, deren wichtigste die Umstellung der Pflegeversicherung vom Umlage- auf das Kapitaldeckungsverfahren ist. Den Unsinn einer Eigenheimförderung bei einer faktisch schrumpfenden Bevölkerung hat unlängst noch der Städteplaner Albert Speer nachdrücklich beschrieben. Zeit nutzen heißt auch: die Dinge gleichzeitig machen. Man kann gegebene Versprechen in Frage stellen, muß es sogar. Aber wenn daraus ein schleichender Prozeß ewiger Anpassung wird, entsteht ein fundamentales Mißtrauen gegen den Staat.
Wie haben wir seit den späten sechziger Jahren unser Land gefegt und gereinigt, wie oft haben wir, hinter irgendwelchen Volvos herfahrend, den Aufkleberspruch auswendig gelernt, daß wir die Erde von unseren Kindern nur geliehen haben. Wir haben alles richtig machen wollen und offenbar etwas Wichtiges versäumt. Werden die über fünfzig Prozent Älteren, die keine Enkel mehr haben werden, überhaupt daran interessiert sein, wie die Kindeskinder leben? Unsere Kinder werden uns nicht vor Vorwürfen verschonen. Sie werden uns anklagen. Sie werden fragen, und zwar schon in zehn Jahren fragen, was wir und unsere Politik mit der wenigen Zeit gemacht haben, die uns zum Umsteuern noch blieb.
Wollen wir dann allen Ernstes sagen, ach Gott, wir haben uns da doch total immer mal wieder zehn Stunden mit dem Herrn Klaeden und dem Herrn Volmer verplaudert?
FRANK SCHIRRMACHER
Die knappste Ressource ist Zeit. Aber wir kümmern uns zehn Stunden lang um Ludger Volmer.
Könnte Deutschlands Kreditwürdigkeit wegen der Veralterung auf den Stand von Jamaika sinken?
Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 24.04.2005, Nr. 16 / Seite 25
MfG kiiwii
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