Wo steht die SPD ein Jahr nach der verlorenen Bundestagswahl? Noch sei "emotionaler Schutt" vorhanden, heißt es in der Partei. Aber in der SPD mehren sich die Stimmen, nicht mehr zurück, sondern nach vorne zu schauen. Aber wie? Und wohin? Der morgige Sonderparteitag soll Klarheit bringen.
Von Corinna Emundts, tagesschau.de
So richtig entspannt war SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles in der Woche vor dem SPD-Parteitag nicht. Einerseits soll sie in ihrer Funktion Optimismus und Geschlossenheit verbreiten, andererseits weiß sie auch, dass die SPD noch lange nicht aus der Krise ist. Aber die ewigen Fragen nach der Partei-Krise nerven ganz offenkundig. "Wir sind nicht selbstzufrieden, aber zufrieden", sagt sie leicht aggressiv nach der Präsidiumssitzung im Willy-Brandt-Haus.
Fast auf den Tag genau ein Jahr nach der Bundestagswahlschlappe der SPD kommt die Partei in Berlin zu einem "außerordentlichen" Parteitag zusammen, der jetzt gerne von Nahles als "Arbeitstreffen" bezeichnet wird. Doch für ein echtes Arbeitstreffen ist er mit den dafür angesetzten knapp fünf Stunden zu kurz. Denn an zu bearbeitenden Themen fehlt es der SPD wahrlich nicht. Das heikle Thema "Integration"
Zwar hat die Partei seit der Bundestagswahl Arbeitsgruppen wie beispielsweise die "Zukunftswerkstatt Integration" unter Klaus Wowereits Leitung gegründet. Doch diese war lange nicht so öffentlichkeitswirksam wie der inzwischen von der SPD äußerst ungeliebte Thilo Sarrazin. Nun hat Noch-Mitglied Sarrazin der Partei das Thema Integration prominenter beschert als geplant. Die Parteitagsregie hat das Thema in eine Diskussionsrunde vorab ausgelagert. Offiziell beginnt der Parteitag erst danach.
Ob das Debatten zum Thema anschließend verhindert? Und ob die Partei da bei ihren Leuten punkten kann? Schließlich entspricht die wortgewaltige öffentliche Distanzierung des Parteichefs Sigmar Gabriel von Sarrazin gar nicht dem, was viele SPD-Anhänger denken und zahlreich per E-Mail an die SPD und auch das Parteiblatt "Vorwärts" geschickt haben. Die Parteibasis hat nur wenig Verständnis für einen Ausschluss Sarrazins.
In SPD-Kritiker und Ex-Finanzminister Steinbrück hatte sogar Kanzlerin Merkel Vertrauen. Wo steht die SPD ein Jahr nach der verlorenen Bundestagswahl? Noch sei "emotionaler Schutt" vom 27. September 2009 übrig, sagt Nahles noch in der Woche vor dem Parteitag. Andererseits mehren sich in der SPD die Stimmen, nicht mehr zurückzuschauen, sondern nach vorne durchzustarten. Das hat Ex-Finanzminister und Ex-Parteivize Peer Steinbrück in seinem Buch "Unterm Strich" in einem langen letzten Kapitel gemacht. Kurz gesagt liest er der SPD die Leviten: Der Partei sei der Fortschrittsbegriff "in seiner gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Dimension weitgehend entglitten".
Doch gerade die SPD-Linke wiederum wartet fordernd auf eine General-Umkehr bei Beschlüssen zu Hartz IV und der Rente mit 67. Die fühlt sich nun provoziert von Parteichef Gabriels Entscheidung, Steinbrück einen großen Auftritt beim Parteitag einzuräumen. Doch Generalsektretärin Nahles, als Parteilinke ursprünglich bekannt geworden, geht in die Verteidigung: Jeder, der einen Beitrag leiste, die SPD "konstruktiv nach vorne zu bringen", sei willkommen - Steinbrück gehöre dazu.
Gabriel gab in den vergangenen Monaten den Mutmacher - und wirkte wie ein Strippenzieher, der vor allem darauf achtete, dass die Fliehkräfte in der SPD nicht zu sehr auseinanderdriften. Man zollt ihm dafür Respekt. Selbst Ex-Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier, Partei-Vize, Fraktionschef und bekennender Agenda-2010-Verteidiger wurde von ihm in den "Wir sind alle einig und haben uns lieb"-Chor eingemeindet. Und die Agenda-kritische Parteilinke - unter Schröder, Müntefering, Steinbrück und Steinmeier stets unzufrieden, blieb handzahm, ebenso das "Netzwerk Berlin", das eher die Agenda 2010 befürwortete.
Auftrieb gab der SPD auch die Aufstellung des Kandidaten fürs Bundespräsidentenamt, Joachim Gauck. Dieser bekam in der Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit und mediale Unterstützung. Zudem stiegen die SPD-Umfragewerte wieder, parallel zur stärker werdenden Unzufriedenheit mit Schwarz-Gelb. Doch was davon ist von Gabriel hausgemacht? Hört man in die SPD hinein, ist keinesfalls für jeden ausgemacht, dass er der nächste SPD-Kanzlerkandidat wird, nur weil er Vorsitzender und damit bisher erfolgreich ist.
Denn bemerkenswerter ist laut neuestem Deutschlandtrend ein Resultat, das Steinmeier erzielt: Wenn jetzt eine Wahl anstünde und man den Kanzler oder die Kanzlerin direkt wählen könnte, würde Steinmeier erstaunlich nah an die amtierende Kanzlerin Angela Merkel (CDU) heranrücken. 41 Prozent würden sich für Merkel entscheiden, 38 Prozent für Steinmeier - so eng war das Rennen zwischen den beiden im Wahlkampf 2009 zu keinem Zeitpunkt. Bei der gleichen Fragestellung schneidet Gabriel deutlich schwächer ab. Bei dieser Alternative würden 45 Prozent Merkel wählen, aber nur 33 Prozent Gabriel.
Der SPD-Parteichef kann sich deswegen nicht zurücklehnen. Parteiintern wird ohnehin das Gegrummel lauter. Die ungeklärte Ausrichtung der SPD ließe sich nicht ewig aufschieben, wolle man nicht ähnlich unvorbereitet an die Regierung kommen wie 1998. Steinbrück fordert eine "Agenda 2020", die Jusos fordern eine deutlichere Abgrenzung von den Grünen, die gerade in Großstädten der SPD gefährlich nahe kommen und sie zuweilen - wie in Berlin - sogar in Umfragewerten überholen. Zukunftsdebatten führen eher die Grünen
Beim Ex-Koalitionspartner, den Grünen, werde auf viel höherem Niveau und viel intensiver über Zukunftsfragen debattiert, seufzt ein SPD-interner Vordenker gegenüber tagesschau.de. Bei der SPD passiere da viel zu wenig. Man beschäftige sich zu sehr mit dem eigenen Zerfall, statt Mitte-Links-Koalitionen über mehrere Parteien hinweg zu schmieden. Zudem arbeite sie sich an dem Schein-Konkurrenten ab, statt zu überlegen, wie sie optimal koalitionsfähig werde für die nächste rot-grüne Regierung.
Die Gabriel-SPD muss offenkundig zweierlei gleichzeitig schaffen: die Anhänger und Mitglieder, die in Scharen in die Gruppe der Nichtwähler oder zu den Grünen überlaufen, wieder einfangen und integrieren - und die Partei für neue Milieus öffnen. Das wirkt derzeit wie die Quadratur des Kreises, weil es unter den Mitgliedern ebenso wie bei Funktionären die Teilung in Traditionalisten und Modernisierer gibt. Der "große Brocken" Parteireform
Einige Milieus, die sich nun abwenden oder gar den Grünen zuwenden, ist die SPD nicht progressiv genug. Viele noch treue Milieus wiederum wollen eine SPD, die mehr an Gewerkschaften und am versorgenden Sozialstaat festhält und nicht auf mehr Eigenverantwortung setzt. Im Jahr 2009 wählten mehr Arbeiter die CDU als die ehemalige Arbeiterpartei SPD. Lange hat man in der SPD versäumt, mit der Basis überhaupt richtig zu sprechen, das weiß die Parteispitze. Das soll nun nachgeholt werden. Nahles bezeichnet die Parteireform als "großen Brocken", der noch vor ihnen liege.
Erkannt ist das Problem schon länger. "Wir müssen raus ins Leben", hatte Gabriel die nach der Wahlschlappe unter Schock stehenden Delegierten beim Dresdner Parteitag im November 2009 in einer fulminanten Rede aufgerüttelt: "Wir müssen dahin, wo es anstrengend ist. Denn nur da ist das Leben!" Das Leben für die SPD bleibt wohl vorerst auch ziemlich anstrengend.
Gruß Sebestie
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