... Demoralisierung der Gesellschaft im Ganzen?
Die kollektive Demoralisierung ist schlimmer als eine vorübergehende Rezession jemals sein kann. Rezessionen haben wenigstens eine begleitende Tugend, nämlich dass sie den Sinn für Maßverhältnisse wieder einüben. Nicht Maßhalten im Sinne von Den-Gürtel-enger-Schnallen, sondern Maß nehmen im Sinne von Das-Gefühl-für-die-Proportion-nicht-Verlieren. Seit Jahrzehnten leben wir in einer gespenstischen Atmosphäre, in der ständig verrückt machende Doppelbotschaften auf die Menschen einprasseln: Sie sollen zugleich sparen und verschwenden, sie sollen zugleich riskieren und solide wirtschaften, sie sollen hoch spekulieren und mit den Füßen auf dem Boden bleiben. Auf die Dauer führt das zu einer absoluten Zermürbung. Derselbe demoralisierende Effekt geht auch von der Tatsache aus, dass die leistungslosen Einkommen rasend schnell wachsen. Das vergiftet die jungen Leute, weil sie anfangen, sich in Scheinkarrieren hineinzuträumen. Das Ganze hat einen hässlichen psychologischen Namen: der Traum von der Überbelohnung. Viele stehen am Morgen auf und wollen schon die Höchstprämie haben. Der innere Millionär ist in allen geweckt. Er ist nur noch nicht kongruent mit der real existierenden Person.
Aber haben wir es nicht an beiden Enden mit der gleichen Haltung zu tun: auf der einen Seite die Bankangestellten, die mit dem Bonus fest planen und das Gefühl haben, der steht ihnen zu? Und auf der anderen Seite jene, die glauben, dass ihnen ein Teil des Volkseinkommens auch ohne Gegenleistung in Form von Arbeit gehört?
Das Wohlfahrtssystem ist unentbehrlich, doch sendet es auch Desinformationen aus, die zu Fehlhaltungen führen. Die Amerikaner haben in der Clinton-Ära einen mutigeren Weg eingeschlagen. Sie haben die vage Idee, dass die Gesellschaft uns in der Not Unterstützung schuldet, umformuliert in die präzise Idee eines zeitlich begrenzten Sozialstaatsguthabens, auf das jeder Bürger Anspruch hat.
„Welfare to Work“ hieß das Programm ...
...und es bedeutet, dass jeder Bürger in einer Zeit eines Durchhängers auf Unterstützung zugreifen darf. Das hatte die Nebenwirkung, dass die absichtliche Armutsfortpflanzung innerhalb des Welfare-Systems stark zurückgegangen ist. Früher hat eine Frau im Welfare-System eine beamtenähnliche Stellung erlangen können, sobald sie das vierte Kind in die Welt gesetzt hatte.
Ronald Reagan sprach sogar von der „Welfare Queen“, die durch die Ghettos stolziere, weil sie ein Einkommen in erstaunlicher Höhe auswies.
Auch diese Phänomene haben mit der psychopolitischen Fehlkonstruktion unserer Fiskalität zu tun. Wenn Geld erst mal im Fiskus ist, gilt es nur noch als eigenschaftslose Verfügungsmasse, auf ihr ist überhaupt kein Fingerabdruck der gebenden Gruppe mehr zu sehen. Von der Anteilnahme der Geber muss der Nehmer nichts spüren. Das haben wir früher Staatsknete genannt, neutralisiertes Geld. Das verwirrt den Empfänger, weil er den Wärmestrom, der ihn von der gebenden Seite her materiell erreicht, nicht mehr empfinden kann. Im Gegenteil, es entsteht öfter sogar eine Art Nehmerwut aus Ärger darüber, dass es ruhig mehr sein könnte. Von den wirklichen Vorgängen im Transfer wissen wir ziemlich wenig.
Quelle und mehr: Interview mit Peter Sloterdijk:
http://www.handelsblatt.com/politik/international/....html?p5968680=7