Sanktionen, Mobilmachung und jetzt auch noch der Öl-Importstopp: Wie die Wirtschaft unter Putins Krieg leidet. Von Michael Thumann
Wladimir Putin fährt regelmäßig von seinem Landsitz über den Kutusowski-Prospekt in den Kreml. Mit abgedunkelten Scheiben rast seine Aurus-Karosse bei hoher Geschwindigkeit über die achtspurige Straße und hält nie an. Sonst könnte Putin hier, beim Moskauer ZEIT-Büro um die Ecke, sehen, was seine Politik mittlerweile anrichtet. Jedes zweite Geschäft steht leer. "Zu vermieten!" steht an den vom Staub blinden Ladentüren. Wenige Menschen hasten im eisigen Wind vorbei. In dieser Gegend bei dem Luxushotel Ukraina und dem Amtssitz des russischen Premierministers wohnen Moskaus Gutverdienende. Aber offenbar nicht mehr gut genug. Ein Feinschmeckerladen und das Spesenritter-Restaurant Eataly haben im Oktober geschlossen. Der Edelsupermarkt Asbuka Wkussa am Kutusowski-Prospekt musste dichtmachen. Dafür hat beim nahen Kiewer Bahnhof eine Filiale der Billigkette Pjatjorotschka neu eröffnet.
Von wegen die Sanktionen wirken nicht. Russlands Krise ist in diesen frostkalten Wintertagen für alle unübersehbar. Die Phase nach dem Überfall auf die Ukraine, als die russische Regierung die Folgen von Krieg und Embargo durch hohe Öleinnahmen, Kapitalexportsperren und Währungsmanipulation ausgleichen konnte, ist vorbei. Nun brechen die Folgen von Sanktionen und Mobilmachung in den Alltag ein. Dabei haben sich der Öl-Importstopp der EU und der G7-Preisdeckel für russisches Öl von Anfang Dezember noch gar nicht ausgewirkt. Auch diese Sanktionen werden Russland hart treffen. Die russische Wirtschaft rutscht langsam, aber unaufhaltsam in eine tiefe Krise.
In Zahlen ist das nur schwer darstellbar. Viele russische Statistiken sind mittlerweile Staatsgeheimnis, die Behörden veröffentlichen nur ausgewählte – polierte – Zahlen. Und selbst die sind negativ. Die russische Zentralbank sagt für dieses Jahr eine Schrumpfung der Wirtschaft um 3 bis 3,5 Prozent voraus. Die Statistikbehörde Rosstat gibt für das dritte Quartal einen Einbruch von 4 Prozent gegenüber dem Vorjahr an. Der Internationale Währungsfonds und die Weltbank erwarten ein Absacken von 3,4 bis 5,5 Prozent für dieses Jahr. Im kommenden Jahr soll das Bruttoinlandsprodukt weiter sinken, schätzt die Zentralbank, um eins bis vier Prozent.
Ob die Zahlen der russischen Behörden stimmen, lässt sich nicht unabhängig überprüfen, und auf Interviewanfragen dazu reagiert die Regierung nicht. Aber zwei russische Unternehmer waren unter der Bedingung absoluter Anonymität bereit, mit der ZEIT zu sprechen. Sie kämpfen um das wirtschaftliche Überleben in einer Zeit, in der freies Unternehmertum in Russland nur noch wenig gilt und die Ökonomie nach dem Willen Putins zunehmend auf Kriegsbedarf umgestellt wird.
Alexej Smirnow (sein wirklicher Name ist der Redaktion bekannt) betreibt eine Fabrik für Haushaltselektronik. Wir treffen uns in seiner geräumigen Wohnung am Moskauer Stadtrand. Viele Bauteile seiner Produkte kommen aus Ostasien, und werden dann in Russland montiert. Die Sanktionen haben sein Geschäft völlig verändert. Früher kamen die Container über Rotterdam oder St. Petersburg. Europa war Russlands Tor zur Welt. "Die Transportwege haben sich in allen Industrien völlig verändert", erzählt er. Aus West-Ost wurde Ost-West, das heißt, die Waren kommen nun über Wladiwostok am Pazifischen Ozean. Dort werden sie auf die Transsib-Eisenbahn umgeladen. Oder sie gehen durch die Mongolei weiter in das westliche Russland. "Die Häfen und die Eisenbahnstationen sind nicht im Geringsten für diese Warenmenge ausgebaut und vorbereitet", klagt Smirnow. Es komme zu monatelangen Verspätungen. Für die Fabriken von Smirnow hat das tiefgreifende Folgen. "Wir produzieren in einem Monat viel, im nächsten Monat sehr wenig, weil die Bauteile nicht nachkommen, gerade bei Hochtechnologie-Produkten."
Die unabhängige russische Wirtschaftswissenschaftlerin Natalja Subarewitsch spricht von vier Schocks für die russische Wirtschaft in diesem Jahr. Der erste, das Einfrieren der russischen Finanzen, konnte durch die Währungsmanipulation abgedämpft werden. Der zweite Schock ist der Weggang globaler Firmen, ein irreparabler Verlust. Der dritte sind Putins Gasembargo und die westlichen Ölsanktionen, die künftig die russischen Einnahmen begrenzen werden. Der für die private Wirtschaft heftigste Schock, sagt Subarewitsch, sind die Handelssanktionen im Bereich der Technologie. Amerikanische Behörden berichten, dass der Import von Mikrochips nach Russland in diesem Jahr um rund 70 Prozent eingebrochen sei. Und was ins Land komme, reserviere sich sofort die Rüstungsindustrie. Subarewitsch sagt: "Das Verbot der Einfuhr von Technologie und Ausrüstung wird schrittweise zum technologischen Verfall der Industrie führen."
Putin versuchte dem schon im Juni entgegenzuwirken, indem er sogenannte Parallelimporte erlaubte und fördern ließ. Das sind Einfuhren westlicher Waren, die unter Umgehung der Sanktionen über Zentralasien oder Nahmittelost nach Russland kommen. Der Unternehmer Smirnow sieht darin keine Entlastung. Diese Importe seien wesentlich teurer, dabei aber unzuverlässig und natürlich auch international geächtet. Darauf zu bauen sei sehr risikoreich. Er nennt ein Beispiel aus einer verwandten Branche. In Russland gebe es eine große Nachfrage nach iPhones, die per Parallelimport ins Land kämen. Die Händler hätten dafür im Juli im Voraus bezahlt. Aber erst Ende Oktober seien die neuen Smartphones über die Vereinigten Arabischen Emirate und Kasachstan eingetroffen. Armee und Industrie streiten sich um Fachkräfte
Die Parallelimporte könnten die regulären Einfuhren nicht ausgleichen, meint Natalja Subarewitsch. Auf Dauer bestehe ohnehin die Gefahr, dass diese Importe einbrechen, wenn der Westen die Sanktionen auf die Zwischenhändler in Zentralasien und Nahost ausweite. Das Ergebnis sieht man heute schon in einer so reichen Stadt wie Moskau – etwa an den verrammelten Läden am Kutusowski-Prospekt in der Stadtmitte. Oder an den großen Einkaufszentren in den Außenbezirken. "Dort steht schon bis zu ein Fünftel der Verkaufsflächen leer", sagt Subarewitsch. Die Umsätze im Einzelhandel seien um zehn Prozent gegenüber dem Vorjahr eingebrochen. "Die Leute kaufen weniger und billiger", sagt die Ökonomin.
Am folgenschwersten könnte eine Last sein, die Wladimir Putin selbst seinem Volk auferlegt hat: die Mobilmachung der männlichen Bevölkerung seit September. Sie trifft weniger die Dienstleistungs-Metropole Moskau, sondern die russischen Provinzstädte, wo die großen Industriebetriebe liegen. In den Fabriken von Alexej Smirnow arbeiten mehrere Tausend Menschen. Davon erhielt ein knappes Drittel einen Einberufungsbescheid, oft Spezialisten, die man länger eingearbeitet hatte. Damit drohte die Produktion zusammenzubrechen. "Für uns waren der Kriegsausbruch und der Tag der Mobilmachung pechschwarze Daten", sagt Smirnow. Sofort telefonierte er mit den örtlichen Behörden und dem Bürgermeister der russischen Provinzstadt, sogar mit dem Gebiets-Gouverneur: "Wenn ihr mir diese Leute wegnehmt, hört die Fabrik auf zu arbeiten." Diese Drohung zog. "Für den größten Teil der Einberufenen konnte ich eine Zurückstellung erreichen", sagt Smirnow. Aber wie lange diese Zusicherung hält, wird vom Kriegsverlauf abhängen. Putins Krieg verschlingt immer mehr Menschen, und die Einberufungen gehen vor allem in der Provinz weiter.
Die Mobilmachung trifft besonders die arbeitsfähigen Männer zwischen 25 und 40 Jahren, also gerade jenen Teil der Bevölkerung, der auch in den Fabriken dringend gebraucht wird. Armee und Industrie streiten sich um die Fachkräfte, aber Putin hat längst entschieden, wer Vorrang hat. Die Industrie soll sich den Bedürfnissen der Armee anpassen. Dabei wird auf jeden zurückgegriffen, der einen Hammer halten kann. Selbst die größte Panzerfabrik, Uralwagonsawod in Nischni Tagil, verlor wegen der Mobilmachung wichtige Facharbeiter. Plötzlich stand die Produktion von T-90-Panzern still. Doch anstatt die ausgebildeten Männer von der Front zurückzuholen, bedienten sich die Behörden anderswo: Der Gouverneur der Region entschied, 250 Häftlinge aus den örtlichen Straflagern in die Panzerfabrik zu schicken, damit diese dort als Schlosser und Mechaniker arbeiten.
In der Moskauer Zentrale der Firma von Alexej Smirnow kamen die Mitarbeiter einer Einberufung zuvor, indem sie ins Ausland flohen. Auch wenn sie nun in Georgien, Zentralasien und der Türkei leben, gehören sie weiter zu Smirnows Firma. "Wir arbeiten jetzt weitgehend über Videokonferenzen von zu Hause aus", sagt Smirnow. "So geht es fürs Erste." Aber sein Hauptproblem bleibt: "ein kolossales Personaldefizit!"
Seit dem Kriegsausbruch im Februar haben Hunderttausende Russen ihr Land verlassen. Der Exodus geht weiter, in jüngster Zeit vor allem nach Zentralasien. In Taschkent, der Hauptstadt Usbekistans, sitzt Dmitrij Orlow (Name geändert) und ist über eine App mit dem Moskauer ZEIT-Büro verbunden. Er hatte in Moskau 20 Jahre lang eine florierende Werbeagentur geleitet. Nach dem 24. Februar entschied er sich zu gehen. Altbekannte private Kunden sprangen ab, viele gingen ins Ausland, dafür fragten plötzlich Behörden und eine Rüstungsfabrik an, ob er für sie arbeiten würde. Orlow sah in Russland keine Perspektive mehr. Zu einem Werbeagenten des Krieges wollte er nicht werden.
Wie Orlow sind viele russische Geschäftsleute nach Zentralasien, Georgien und Armenien gezogen. Die Zahlen der Ausgewanderten verschweigen die russischen Behörden. Manche ziehen vor Krieg und Mobilisierung fort. Andere verlassen das Land, weil ihre Kunden im Westen sind. Aus benachbarten Ländern können Russinnen und Russen weiter Geschäfte mit Europa machen. Aber die entstehenden Arbeitsplätze bieten sie nun nicht mehr in Russland an, und ihre Steuern zahlen sie auch nicht mehr dort. Usbekistan ist kleiner als Russland, aber mit 30 Millionen Einwohnern ein großer Markt in der Region. Orlow sagt, er könne hier alle Geschäfte auf Russisch abwickeln. "Dieses Land ist wie Russland vor gut 20 Jahren, als die Wirtschaft im Aufschwung war und man ganz viel aufbauen konnte." Die Kreativen würden jetzt dorthin gehen, wo sie die Freiheit hätten, kreativ zu sein.
In der russischen Dauerdepression könne man keine guten Ideen entwickeln, nicht einfallsreich, nicht unterhaltsam und nicht anregend sein, findet Orlow. Eine Werbeagentur benötige aber eine solche Umgebung. "Mein Land sagt mir heute: Wir brauchen deine Ideen nicht, wir wollen dich nur in eine Uniform stecken – und wenn du eine Leiche bist, werden wir deiner Familie ein bisschen Geld geben. Das ist kein wettbewerbsfähiges Angebot."
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