Er weiss, dass dieser Krieg schon verloren ist“
«Ich sehe kein gutes Ende für Wladimir Putin», sagt die Politikanalystin Jessica Berlin in «NZZ Standpunkte». Die Ukraine hingegen sei durchaus in der Lage, den Krieg für sich zu entscheiden – eine breite Solidarität des Westens vorausgesetzt.
Die Ukraine steht nach einem halben Jahr Krieg deutlich besser da, als das selbst Optimisten erwartet haben. Jessica Berlin sagt im Gespräch mit dem NZZ-Chefredaktor Eric Gujer, das sei in erster Linie den Ukrainern selber zu verdanken. «Natürlich werden sie mit westlicher Intelligenz und Waffen unterstützt. Aber die wenigsten hätten gedacht, dass sie so unheimlich kompetent und entschlossen diesen Krieg führen würden», sagt die deutsch-amerikanische Politikanalystin. Die Ukrainer hätten «Militärgeschichte geschrieben».
Trotz ihren jüngsten Erfolgen an der Front wüssten sie aber selber nur zu gut, dass der Krieg noch länger dauern werde. Deshalb sei das Land für das weitere Gelingen des militärischen Widerstands mehr denn je auf die Hilfe des Westens, der Nato, angewiesen, so Berlin weiter. Zwar würden die Ukrainer weiter «bis zum Tode kämpfen, um ihr Land zu verteidigen». Doch die Bevölkerung sei traumatisiert und erschöpft. Man habe bloss «keine Zeit, müde zu sein», wie ihr jemand vor Ort gesagt habe. Erst kürzlich war Jessica Berlin in Kiew.
Kriegsmüdigkeit dürfe auch im Westen nicht aufkommen. «Wenn Putin diesen Krieg gewinnt, wenn wir ihm das erlauben, dann ist ganz Europa bedroht», fürchtet Berlin. Die 36-Jährige warnt vor einer «Rückkehr zu den Zeiten, in denen Gewalt Grenzen definierte».
«Wir müssen auch etwas opfern für die Freiheit»
Deshalb appelliert Berlin an die Menschen vor allem in Westeuropa, am Schicksal der Ukraine Anteil zu nehmen und ihren eigenen Beitrag zur Abwehr der Bedrohung durch Moskau zu leisten. «Wir müssen auch etwas opfern für die Freiheit. Und das ist für viele Europäer ein neuer Gedanke.» Dabei haben vor wenigen Generationen noch Millionen von Europäern «ihr eigenes Leben geopfert für Frieden und Freiheit», wie Berlin betont.
Heute sind die Vorzeichen anders und der Krieg scheinbar weit weg. Deshalb brauche es jetzt von der Politik eine klare Linie, eine «starke, führende Stimme», die den Bürgern den Weg weise, fordert Berlin. Man müsse den Menschen klarmachen, was auf dem Spiel stehe: «Es geht nicht nur um irgendwelche Gebiete im Osten der Ukraine. Es geht gerade um die internationale Friedensordnung, die wir seit dem Zweiten Weltkrieg hergestellt haben.»
«Der Kalte Krieg ist längst vorbei, das Russland von damals tot»
Die Menschen seien durchaus in der Lage, dies zu verstehen. Und im Prinzip auch bereit zu Zugeständnissen, wenn es um den eigenen Komfort gehe, wie aktuelle Umfragen zeigen würden. Deutliche Kritik äussert Berlin vor diesem Hintergrund am zaghaften Kurs des deutschen Kanzlers Olaf Scholz. «Die Bundesregierung hat in den letzten sechs Monaten immer nur reagiert», so Berlin. Und selbst dies oftmals nur aufgrund des Drucks der USA.
Doch seien auch anderen Staaten, einschliesslich der USA, gravierende Fehler unterlaufen, insbesondere bei der Beurteilung der Stärke der russischen Armee. «Ich glaube, das ist der lange Schatten des Kalten Krieges», mutmasst Berlin. «Der Kalte Krieg ist für die jetzige sicherheitspolitische Führung noch die Wahrheit, das Wasser, in dem wir schwimmen.» Was der Verlauf des Kriegs aber zeige, sei, «dass der Kalte Krieg längst vorbei und das Russland von damals längst tot ist».
«Das ist jetzt ein Überlebenskrieg für Putin»
So sei es denn auch vor allem Putin, dem nun die Zeit davonlaufe. «Das ist jetzt ein Überlebenskrieg für ihn persönlich. Es wird für ihn immer schwieriger werden, Niederlagen als Siege umzuschreiben.» Zudem gebe es immer mehr Kritik selbst in den eigenen Reihen und von den treuesten Mitstreitern.
«Ich glaube, es wird ihm immer klarer, dass diese sogenannte militärische Spezialoperation ein Fehler war», sagt Berlin. «Ich sehe kein gutes Ende für ihn in dieser Situation.» Dass Putin dabei plötzlich Rücksicht auf das Leid der Bevölkerung nehmen oder gar Fehler einräumen würde, erscheint ausgeschlossen. Wie also kann der Krieg dann beendet werden?
Laut Berlin erst dann, wenn Moskau den vollständigen Rückzug der russischen Truppen vom ukrainischen Staatsgebiet anordnet – inklusive des Donbass und der Krim. «Es ist durchaus machbar, wenn die Unterstützung aus dem Westen erhöht wird», sagt Berlin. Das Nato-Bündnis müsse die Ukraine deshalb weiter stärken, mit schweren Waffen, Aufklärung und auch mit finanzieller Hilfe. Dann könne die Ukraine diesen Krieg gewinnen. «Und ich glaube, diese Tatsache hält Wladimir Putin nachts wach: Er weiss, dass dieser Krieg eigentlich schon verloren ist.»
Quelle: https://www.nzz.ch/international/...ieg-schon-verloren-ist-ld.1702478
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