Im Raum München schlägt das Herz der deutschen Biotechnologie. Hunderte Firmen suchen hier in ihren Laboren nach Wirkstoffen gegen Krankheiten wie Alzheimer, Leukämie oder Herzschwäche – aber vor allem gegen Krebs.
© OVB Jahrelange Forschung – wie hier bei Morphosys – ist nötig, bis ein neues Arzneimittel auf den Markt kommt. Von der Forschung bis zur Marktreife dauert es meist zehn Jahre und länger. Bis zuletzt besteht das Risiko eines Totalausfalls. biotechnologie Im Raum München schlägt das Herz der deutschen Biotechnologie. Hunderte Firmen suchen hier in ihren Laboren nach Wirkstoffen gegen Krankheiten wie Alzheimer, Leukämie oder Herzschwäche – aber vor allem gegen Krebs. von manuela dollinger München – Der Hals des Patienten ist angeschwollen. Die Lymphknoten sind stark vergrößert, auf dem Röntgenbild sind eine Reihe von Knoten zu sehen. Diagnose: Krebs. Nach drei Behandlungen ist der Patient „austherapiert“ – so nennen es Ärzte, wenn sie alles probiert haben, wenn sie nichts mehr tun können, außer die Schmerzen zu lindern. Doch der Krebs-Patient, ein Rentner Ende 60, gibt nicht auf. Er nimmt auf Anraten seiner Ärzte an einer klinischen Studie teil. Der neue Wirkstoff eines Biotechunternehmens soll getestet werden. Sechs Wochen später gehen die Schwellungen zurück. Heute – nach 23 Monaten sind die Krebsgeschwüre vollständig verschwunden. „Das ist ein riesiger Erfolg – auch wenn es nur um einen Patient geht“, sagt Enno Spillner. Der Diplom-Kaufmann ist seit 2013 Vorstandsvorsitzender bei 4SC, einem Biotechunternehmen mit Sitz in Martinsried bei München. Der Wirkstoff 4SC-202, den der Patient seit Monaten einnimmt, stammt von den Martinsriedern. Nach vielen Jahren Forschung wurde die sogenannte Phase I vor kurzem abgeschlossen – mit großem Erfolg. Ob der Wirkstoff auf den Markt kommen wird, ist allerdings noch lange nicht entschieden. Es stehen noch die Phasen II und III an, klinische Tests am Patienten – mit viel Glück wird dann in einigen Jahren aus 4SC-202 ein Krebs-Medikament, das es in der Apotheke gibt. Die Entwicklung von Medikamenten ist ein langer und riskanter Prozess. Von der Forschung bis zur Marktreife dauert es meist zehn Jahre und länger. Nur ein kleiner Teil schafft es bis zur Marktzulassung. Ein solcher Blockbuster ist der Traum jedes Biotechnologie-Unternehmens – und davon gibt es im Raum München hunderte. An kaum einem Ort in Deutschland wird so eifrig nach neuen Medikamenten gesucht. Insgesamt sitzen 377 Biotechnologie- und Pharmaunternehmen mit rund 23 000 Beschäftigten in der Metropolregion München. Dazu kommen rund 10 000 Mitarbeiter in verschiedenen öffentlichen und privaten Forschungseinrichtungen und Universitäten. Rund ein Drittel der Firmen hat seinen Sitz in Martinsried – hier schlägt das Herz der deutschen Biotechnologie. Seit den 1990er-Jahren liegen hier die Labore Tür an Tür. Aber auch ausländische Biotech-Firmen haben Niederlassungen im Raum München; zum Beispiel Amgen, das größte Biotechunternehmen der Welt, oder Alexion – beide haben ihren Hauptsitz in den USA. „Der Standort München ist für Biotech-Firmen besonders interessant. Hier sitzen die Firmen aus der Branche – auch aus den USA“, sagt Susanne Specht, Geschäftsführerin von Alexion in Deutschland. Alexion entwickelt Medikamente gegen sehr seltene lebensbedrohliche Krankheiten, die weniger als einmal unter 50 000 Personen vorkommen. Das erste Präparat, das zugelassen wurde, heißt Soliris – ein Arzneimittel für Patienten, die an Paroxysmaler Nächtlicher Hämoglobinurie (PNH) leiden – ein Defekt, durch den das Immunsystem eigene Zellen zerstört. In der Region geht es beinahe ausschließlich um die sogenannte rote Biotechnologie – auch medizinische Biotechnologie genannt. Die ansässigen Unternehmen forschen nach Wirkstoffen gegen Alzheimer, Arthrose, Influenza oder Herzschwäche. Doch der größte Feind ist Krebs. Ihm rücken die Biotechs mit Antikörpern, Epigenetik und Immuntherapien zu Leibe. 4SC ist eines dieser Unternehmen. 1997 in Martinsried gegründet, hat sich das Biotech auf Autoimmunerkrankungen und die Entwicklung von Krebstherapien spezialisiert. Die Büros der 65 Mitarbeiter liegen im IZB, dem Innovations- und Gründerzentrum Biotechnologie in Martinsried. In der Produktpipeline sind momentan vier Medikamentenkandidaten in verschiedenen Phasen der klinischen Entwicklung – außerdem mehrere Programme in frühen Forschungsphasen. Größte Hoffnung des Unternehmen ist ein Wirkstoff namens Resminostat – ein sogenannter Histon-Deacetylase(HDAC)-Inhibitor zur Therapie von Krebserkrankungen, unter anderem Leberkrebs. Der Wirkstoff kann Patienten nicht heilen, soll aber die Zeit, die ihnen noch bleibt, verlängern und erleichtern. 4SC bezeichnet Resminostat als „neue epigenetische Option für die Krebstherapie“. „Vereinfacht gesagt geht es beim Forschungsfeld der Epigenetik darum, eine Therapie zu finden, die vor allem das Ablesen der in der DNA gespeicherten Information beeinflusst, ohne die DNA zu verändern“, erklärt 4SC-Chef Spillner. Geht alles gut, könnte das Medikament 2020 auf den Markt kommen.
Ein anderes Biotechnologie-Unternehmen aus Martinsried verdient bereits Geld mit einem Wirkstoff. Medigene ist das erste deutsche Biotechnologie-Unternehmen überhaupt, das über Einnahmen aus einem vermarkteten Medikament verfügt. „Veregen“ zielt auf die Behandlung von Genitalwarzen ab – das klingt wenig ruhmreich. Doch die Einnahmen fließen wiederum in die Suche nach Wirkstoffen gegen Krebs- und Autoimmunerkrankungen. Der Schwerpunkt bei Medigene liegt auf Blutkrebserkrankungen. Das Unternehmen verfolgt dabei nach eigenen Angaben den Ansatz der „personalisierten Immuntherapie“. „Statt Tumorzellen direkt anzugreifen, wie zum Beispiel im Falle einer Chemotherapie, wird das körpereigene Immunsystem so aktiviert, dass es als Waffe gegen Krebs genutzt werden kann. Je nachdem wie weit fortgeschritten der Tumor ist, wird die passende Therapie ausgewählt“, heißt es bei Medigene. Auch Morphosys, eines der erfolgreichsten deutschen Biotech-Unternehmen, hat den Kampf gegen Krebs aufgenommen. Das Unternehmen arbeite mit einer sogenannten Antikörperbibliothek – eine Sammlung aus über 100 Milliarden Antikörpern. Dahinter steckt folgendes Prinzip: Jeder Mensch hat Milliarden Antikörper, um Krankheiten zu bekämpfen. Morphosys hat einen Teil davon kopiert und in ein Reagenzglas gesteckt – ein künstliches Immunsystem. Ziel ist es, daraus den passenden Antikörper zu finden, der eine Krankheit wirksam bekämpfen kann. Die Suche nach dem geeigneten Antikörper dauert 12 bis 18 Monate. Dabei gehen die Wissenschaftler nach dem Aus-schlussprinzip vor. Ein Antikörper hat die Form eines Y – mit zwei kleinen Greifarmen am oberen Ende. Nur einige Antikörper aus der Bibliothek binden sich an das jeweilige Zielmolekül – die Voraussetzung, um gegen eine Krankheit vorzugehen. Nach dem ersten sogenannten Bindungstest bleiben einige hundert der 100 Milliarden Antikörper übrig. Danach geht es um die exakte Bindungsstärke. Antikörper, die besonders gut haften, schaffen es in die nächste Runde. Am Ende zählt, welcher Antikörper die Krebszelle am effektivsten vernichtet. Steht das fest, geht es in die weitere Entwicklung. „Ein Antikörper hat 20 bis 25 Prozent Erfolgschance. Jeder vierte bis fünfte Wirkstoff, der in die Phase I geht, kommt auf den Markt“, sagt Simon Moroney, der Morphosys 1992 gegründet hat und bis heute Chef ist. Morphosys hat mehr als 90 Programme in der Entwicklung – rund ein Viertel wird (meist gemeinsam mit Partnern aus der Pharmaindustrie) in klinischen Studien erprobt. Die Wirkstoffe sollen vor allem gegen Krebs, aber auch gegen Herz- und Kreislauferkrankungen oder Entzündungen helfen. Ein besonders aussichtsreicher Wirkstoff gegen Alzheimer wird gemeinsam mit Roche entwickelt. Bereits jetzt ist klar: Bei Patienten, die bereits Alzheimer haben, ist der Schaden irreparabel. Patienten, die noch in einem sehr frühen Stadium sind, haben dagegen eine Chance. Roche hat passende Patienten unter anderem über Gedächtnistests ausgewählt. Nun werden 800 Patienten zwei Jahre lang in mehr als 100 Kliniken weltweit mit dem neuen Wirkstoff behandelt. Erste Ergebnisse soll es 2016 geben. Bewiesen ist bereits, dass der Wirkstoff Proteinablagerungen im Gehirn lösen kann. Ob sich das am Ende auf das Gedächtnis auswirkt, muss sich zeigen.
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Quelle: ovb-online
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