"So wie der Krieg läuft, kann das russische Regime nicht gewinnen" Marcus Keupp ist einer der wenigen Experten, der eine Niederlage Russlands prognostiziert. Strategisch sei der Krieg entschieden, sagt er. Warum ist er so optimistisch? Interview: Dr.Hauke Friederichs
Durch die Aussage in TV-Sendungen und Interviews, dass die Ukraine noch in diesem Jahr den Krieg gegen Russland gewinnen werde, ist Marcus Matthias Keupp bekannt geworden. Er leitet die Abteilung für Militärökonomie an der Militärakademie der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich. Keupp erwartet, dass bald die Niederlage der russischen Streitkräfte feststeht.
ZEIT ONLINE: Herr Keupp, die ukrainische Armee hat mit ihrer seit Juni laufenden Gegenoffensive bislang nur wenig erreicht. Weshalb verläuft der Vormarsch so zäh?
Marcus Matthias Keupp: Man darf Erfolg oder Misserfolg der Offensive nicht allein in Quadratkilometern messen. Dieser Krieg läuft nicht wie im Zweiten Weltkrieg. Die ukrainische Armee versucht, die russische Front mit dauerhaften Angriffen aufzuweichen, um dann durchstoßen zu können. So etwas dauert. Bei dem ukrainischen Ort Robotyne ist ihnen das gelungen. Dort haben sie die erste Hauptverteidigungslinie der russischen Armee überwunden.
ZEIT ONLINE: Die Gegenoffensive läuft aber schon seit mehr als vier Monaten. Sollten die Fortschritte da nicht größer sein?
Keupp: Die Fortschritte sind vor allem logistischer Art. Mittlerweile liegt die Stadt Tokmak, ein Knotenpunkt für den russischen Nachschub, in der Reichweite ukrainischer Artillerie. Hinzu kommt, dass die russische Armee in diesem Abnutzungskrieg deutlich mehr Soldaten und militärisches Gerät verliert als die Ukraine. Die russischen Soldaten sind deshalb gezwungen, ihre Verteidigungslinien immer weiter auszudünnen. Wenn das so weitergeht, können sie irgendwann einen ganzen Frontabschnitt nicht mehr halten, oder sie müssen die Front auf der ganzen Länge zurücknehmen. Für die Ukrainer ist es zentral, den Russen klarzumachen, dass ihre Position unhaltbar werden wird. Und das machen sie, indem sie die russische Logistik unterbinden und ihnen hohe Verluste bei der Artillerie zufügen.
ZEIT ONLINE: Die russischen Streitkräfte haben im Süden längst weitere Verteidigungslinien errichtet, Hunderttausende Minen verlegt. Wie sollen die Ukrainer da durchkommen?
Keupp: Die erste Verteidigungslinie war gut befestigt. Aber dieses Grabensystem haben die Ukrainer überwunden, genau wie auch die vorgelagerten Minenfelder. Die zweite und dritte russische Linie sind schwächer ausgebaut als die erste. Und im Hinterland gibt es keine Minenfelder.
Im Süden geht der Krieg auch im Herbst weiter
ZEIT ONLINE: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ist mit dem bisherigen Verlauf der Offensive nicht zufrieden. "Wir müssen so viel Territorium wie möglich befreien und wir dürfen keine Zeit verlieren", sagte er unlängst in einem Interview.
Keupp: So etwas muss Selenskyj sagen, um die Verbündeten im Westen bei der Stange zu halten. Sein politisches Ziel ist es natürlich, die Waffenlieferungen aufrechtzuerhalten, damit die Ukraine die russische Aggression neutralisieren kann.
Die Ukrainer erhöhen stetig den Druck auf die Russen
ZEIT ONLINE: Sie klingen sehr viel optimistischer als andere Fachleute, die auf den Krieg schauen.
Keupp: Deutsche Militärs und Experten sind einfach immer pessimistischer. Sie sind überzeugt, dass nur der rasche Bewegungskrieg Erfolg versprechend ist. Das stimmt aber nicht. Mit Angriffen hinter der Front zerstören die Ukrainer die gegnerische Artillerie, bereiten eigene Angriffe vor und erhöhen stetig den Druck auf die Russen. Diese Taktik geht auf. Russische Spezialkräfte, die eigentlich die Front verstärken sollten, ziehen sich bereits im Süden zurück.
ZEIT ONLINE: Wie viel Zeit bleibt der Ukraine noch? Das Wetter wird bereits deutlich schlechter. Der Herbst, mit viel Regen und Schlamm, naht.
Keupp: Die Rasputiza, die Schlammperiode, beginnt meist Ende Oktober. Aber sie stellt diesmal kein Problem für die ukrainische Armee dar. Denn der Süden des Landes ist eine trockene Steppe, dort können Panzer und Militärfahrzeuge auch im Herbst noch gut fahren. Regen und Schlamm sind daher eher für die russischen Verteidiger problematisch, weil die im Graben sitzen. Die Befreiung von Cherson im vergangenen Jahr fand im November statt – also genau in der angeblich so lähmenden Schlammperiode.
ZEIT ONLINE: Im Westen hat man sich schnellere und größere Fortschritte an der Front erhofft. Waren die Erwartungen zu groß?
Keupp: Ja. Und das liegt aus meiner Sicht auch an der Berichterstattung in den Medien. Viele Journalisten und auch Analysten schauen lediglich auf das Verhältnis zwischen zurückgewonnenem und noch besetzen Staatsgebiet. Das ist aber deutlich zu kurz gesprungen. Viele Experten halten zudem an Dogmen aus dem Kalten Krieg oder ihrer militärischen Ausbildung fest und sind unfähig, sich von diesen Denkschemata zu lösen. Dieser Krieg ist anders.
"Strategisch hat Russland schon verloren"
ZEIT ONLINE: Sie haben in einem Interview im November 2022 gesagt, dass der Krieg bereits strategisch entschieden sei. Ein Sieg der ukrainischen Streitkräfte sei nur noch eine Frage der Zeit.
Keupp: Ich stehe unverändert zu dieser Prognose. So wie der Krieg läuft, kann das russische Regime nicht gewinnen. Strategisch hat es schon verloren. Im Oktober werden wir das auch deutlicher sehen, dann wird die ukrainische Armee die ersten amerikanischen Abrams-Panzer einsetzen können. Die Logistik der Russen wird so eingeschränkt sein, dass sie ihre Soldaten zurückziehen müssen, weil sie die Verbände nicht mehr versorgen können – oder sie werden abgespalten, eingekesselt und aufgerieben.
ZEIT ONLINE: Damit ist der Krieg aber nicht sofort beendet.
Keupp: Ich habe nie gesagt, dass im Oktober die Kampfhandlungen enden. Aber wenn Putin ein militärisch rationaler Mensch wäre, hätte er längst eingesehen, dass er den Krieg nicht mehr gewinnen kann. Jetzt hat er Angst, dass sein Regime komplett kollabiert, sollte er seine Truppen plötzlich zurückziehen. Er muss sich also irgendein Exitnarrativ überlegen, um die Niederlage in einen "begrenzten Erfolg" umzumünzen.
ZEIT ONLINE: Nehmen wir an, es kommt so, wie Sie es prognostizieren. Was passiert dann in Moskau? Gerade in Deutschland gibt es die Sorge, Moskau könnte den Krieg nochmals eskalieren und Massenvernichtungswaffen einsetzen.
Keupp: In Deutschland orientieren sich die Menschen oft an ihren Ängsten und nicht an den vorliegenden Fakten. Deswegen fruchtet hierzulande auch die russische Drohung vom Einsatz von Atomwaffen so gut. In Wahrheit ist das aber nur ein Bluff. Das ist reine Propaganda. In Wahrheit zieht das russische Regime den Schwanz ein, sobald der Westen Stärke zeigt.
ZEIT ONLINE: Es gibt noch andere Wege, den Krieg zu eskalieren. Russland könnte eine Generalmobilmachung ausrufen. Wie viele Reserven hat die russische Armee noch?
Keupp: Es kommt nicht darauf an, wie viele Russen noch eingezogen werden können, sondern wie gut die Reservisten ausgebildet und ausgestattet sind. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Russland hat dreimal so viel militärisches Gerät verloren wie die Ukraine und die russische Armee ist nicht in der Lage, diese Verluste adäquat auszugleichen. Deshalb wird immer älteres Material an die Front geschickt. Bei der schweren Artillerie, die eine bedeutende Rolle im Krieg spielt, haben die Russen sehr große Nachschubprobleme. Sie müssen bereits alte Geschütze ausschlachten, um notwendige Ersatzteile an die Front zu schicken. Aktuell versuchen die russischen Streitkräfte zudem Gastarbeiter aus Zentralasien als Kämpfer anzuwerben. So gut scheint es um die eigene Reserve an Soldaten also auch nicht zu stehen.
Wahlkampfgetöse in Polen
ZEIT ONLINE: Polen hat angekündigt, der Ukraine keine Rüstungsgüter mehr zu liefern. In den Vereinigten Staaten wird 2024 gewählt, prominente Republikaner, darunter Präsidentschaftskandidat Donald Trump, wollen die Militärhilfen für die Ukraine kürzen. Was bedeutet das für die Ukraine?
Keupp: Die Regierungspartei PiS nutzt das Narrativ, dass die Ukraine angeblich den polnischen Markt mit billigem Getreide überschwemmt und deshalb gestoppt werden müsse, um Stimmen im ländlichen Raum zu gewinnen. Das ist aber nur Wahlkampfgetöse. An den Waffenlieferungen für die Ukraine wird sich auch nach der Wahl in Polen nichts ändern, sollte die PiS gewinnen. Die Situation in den USA sehe ich ähnlich: Sollten die Republikaner die Wahl gewinnen, wird die Unterstützung für die Ukraine nicht zwangsläufig reduziert. 80 Prozent der republikanischen Abgeordneten befürworten die Militärhilfen, und die Waffenlieferungen werden mehrheitlich aus der "presidential drawdown authority" finanziert, der Kongress muss dafür nicht jedes Mal zustimmen.
ZEIT ONLINE: Daran kann auch ein erneut ins Amt gewählter US-Präsident Donald Trump nichts ändern?
Keupp: Sollte Donald Trump die Wahl gewinnen, dann kommt er im Frühjahr 2025 an die Macht. Bis dahin ist der Krieg vorbei und die Ukrainer haben gewonnen."
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