Artikel aus "j u n g e w e l t . d e" vom 21.09.19
In Brüssel sind am Donnerstag Verhandlungen über die künftige Gasversorgung der EU-Länder aus Russland fortgesetzt worden. Eingeladen hatte Energiekommissar Maros Sefcovic, geladen waren die Energieminister Russlands und der Ukraine sowie die Chefs der Energiekonzerne Gasprom und Naftogas Ukraini, Aleksej Miller und Andrij Kobolew.
Ausgangslage ist, dass der geltende Vertrag über den Transit russischen Gases durch die Ukraine zum Jahresende ausläuft. In seinem Rahmen waren zuletzt mit abnehmender Tendenz ca. 80 Milliarden Kubikmeter des Rohstoffs pro Jahr in die EU geliefert worden. Die Ukraine verlangt, einen neuen Transitvertrag über zehn Jahre und eine Menge von jährlich 60 Milliarden Kubikmeter abzuschließen. Anderenfalls will sie Russland wegen »Geschäftsschädigung« verklagen. Juristisch ist das eher Theaterdonner: Wer an einer Bundesstraße eine Würstchenbude betreibt, kann auch nicht das Verkehrsministerium verklagen, weil es eine parallele Autobahn gebaut hat und ihm die Kunden wegbleiben. Zumal die Ukraine ihr Leitungsnetz nicht selbst gebaut, sondern von der Sowjetunion geerbt hat. Das weiß Kiew im übrigen selbst und berücksichtigt in seiner um 20 Milliarden Kubikmeter unter dem aktuellen Stand liegenden Forderung stillschweigend, dass demnächst die zweite Röhre der Pipeline »Turkish Stream« von Russland in den europäischen Teil der Türkei fertiggestellt sein wird. Über sie will Gasprom jährlich knapp 16 Milliarden Kubikmeter Gas an verschiedene Staaten Südosteuropas liefern, die bisher ebenfalls durch das ukrainische Leitungsnetz versorgt worden sind. Dass diese Leitung nicht mehr zu verhindern ist, scheint man in Brüssel und Kiew verstanden zu haben.
Russland schließt inzwischen nicht mehr aus, den Gastransit durch die Ukraine in geringerem Umfang fortzusetzen die Rede ist von maximal 20 Milliarden Kubikmetern pro Jahr. Aber Moskau will sich, anders als von Kiew verlangt, nicht langfristig binden, sondern allenfalls Jahresverträge schließen. Der Hintergrund ist klar: Russland hofft immer noch, dass trotz aller Obstruktionstaktik aus Teilen der EU die Ostseepipeline »Nord Stre am 2« doch noch fertiggebaut wird, wenn auch mit Verzögerung. Gasprom gab Anfang der Woche bekannt, die Leitung sei inzwischen zu 81 Prozent verlegt; gleichzeitig räumte das Unternehmen erstmals ein, dass sich die Inbetriebnahme verzögern und erst 2020 erfolgen werde. Damit hat die EU eines ihrer Ziele schon erreicht: Eine völlige Einstellung des Transits durch die Ukraine scheint vom Tisch. Aus EU-Sicht hilfreich dabei war ein kürzlich ergangenes Urteil des Europäischen Gerichtshofs, das Gasprom verpflichtete, die Anschlussleitung OPAL von Greifswald nach Tschechien aus angeblichen Wettbewerbsgründen nur zu 50 Prozent auszulasten. Als Folge senkte Gasprom die Durchleitung durch »Nord Stre am 1« an das OPAL anschließt und pumpt statt dessen mehr Gas durch das slowakische Leitungsnetz, und das heißt: über die Ukraine. Das ändert nichts daran, dass der Bau von »Nord Stream 2« weiter hohe Priorität genießt. Das hat mitnichten die im Westen regelmäßig unterstellten Gründe, die Ukraine und andere Transitländer wie etwa Polen mit einem Lieferstopp »erpressen« zu wollen. Die direkte Pipeline ist aus Sicht von Gasprom einfach das bessere Geschäft. Ein paar Zahlen verdeutlichen das. Die Baukosten für »Nord Stream 2« wurden offiziell mit neun Milliarden Euro angegeben. Sie mögen letztlich höher ausfallen, weil die Leitung auf einer längeren, die dänischen Territorialgewässer umgehenden Route verlegt werden muss. Auf jeden Fall bedeutet dies, dass sich diese Ausgaben durch eingesparte Transitgebühren an die Ukraine Russland zahlt Kiew jährlich zwei bis drei Milliarden US-Dollar, also 1,82,7 Milliarden Euro in ungefähr fünf Jahren amortisiert haben werden bei einer geplanten Lebensdauer der Pipeline von mehreren Jahrzehnten. Und wenn die Ukraine im Transitgeschäft bleiben will, wird der Wettbewerb durch »Nord Stream 2« sie zwingen, ihre Forderungen herunterzuschrauben. Sie beruhen ja im Kern nur auf ihrer Territorialherrschaft über die Rohre und nicht über eigene wirtschaftliche Leistung. Ihr Leitungsnetz gilt als technisch verschlissen und reif für eine Grundsanierung. Auch daher erklärt sich das Kiewer Bestreben, jetzt einen möglichst langfristigen Vertrag abzuschließen. Medienberichten zufolge zweifelt auch die ukrainische Regierung aller Rhetorik zum Trotz inzwischen nicht mehr daran, dass »Nord Stream 2« letztlich gebaut wird.
EU-Energiekommissar Sefcovic sprach am Donnerstag abend von einer »konstruktiven Atmosphäre«. In den meisten Punkten seien die Seiten einander nähergekommen. Fortsetzung folgt Ende Oktober.
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