"Die Stromproduktion aus Wind- und Sonnenkraft boomt weltweit. Dennoch konnten die Erneuerbaren mit dem Wachstum des Stromverbrauchs bislang nicht Schritt halten. Die Internationale Energieagentur glaubt jetzt an eine Trendwende – und warnt zugleich vor neuen Gefahren."
"Die IEA ist das Kompetenzzentrum der Industrieländer-Organisation OECD für alle Fragen rund um Energieversorgung und Klimaschutz. Am Sitz der Agentur in Paris legte Birol die neueste Ausgabe des „World Energy Outlook“ vor, das weltweit wichtigste Szenario- und Prognosewerk zur Zukunft der Energieversorgung des Planeten."
„Bereits in früheren Ausgaben haben wir deutlich gemacht, dass die Zukunft des Energiesytems elektrisch ist“, triumphierte Birol: „Jetzt ist das für jeden sichtbar.“
Nach den neuen Szenario-Rechnungen der IEA dürfte sich die Nachfrage nach Elektrizität bis 2050 weltweit rasant erhöhen. Elektroautos, Wärmepumpen, Klimaanlagen, Rechenzentren: Das Wachstum des Strombedarfs verdoppelt sich, schreibt die IEA: Es ist, als würde ab sofort in jedem Jahr ein Stromverbraucher von der Größe Japans neu hinzukommen.
Trotz des Ausbaus der erneuerbaren Energien hat die globale Energiewende mit dem gigantischen Wachstum der Stromnachfrage bislang nicht Schritt halten können. Zwischen 2010 und 2023 wurden die weltweiten Solarstrom-Kapazitäten um das 40-fache erhöht, die Windkraft versechsfacht, Biomasse-Nutzung mehr als verdoppelt – doch all das war nicht genug: Einschließlich der Atomkraft kamen so lediglich 4800 Terawattstunden CO₂-freier Strom zusammen, heißt es im IEA-Report. Nötig wären 8400 Terawattstunden gewesen.
Um die Lücke zwischen Ökostrom-Angebot und Stromnachfrage zu füllen, musste die Kohleverstromung der Welt in den letzten zehn Jahren um 23 Prozent gesteigert werden und Gaskraftwerke 36 Prozent mehr liefern. Deshalb stieg trotz des beispiellosen Ausbau-Booms der erneuerbaren Energien der CO₂-Ausstoß des Stromsystems in den letzten zehn Jahren immer weiter an.
Doch jetzt könnte ein Kipppunkt unmittelbar bevorstehen: Noch vor 2030 könnten CO₂-arme Energieformen – darunter auch Atomkraft – mehr als die Hälfte des globalen Strombedarfs decken. Erstmals in der Geschichte geht der Anteil der fossilen Energieträger Öl und Kohle weltweit zurück. Der Anteil der klimaschädlichen Brennstoffe am globalen Energiemix hatte sich jahrzehntelang stabil gehalten und war auch 2023 nicht unter 80 Prozent gefallen. Doch durch den anhaltenden Investitionsboom in erneuerbare Energien stehe der „Gipfel“ des fossilen Verbrauchs jetzt unmittelbar bevor.
„Von 2023 bis 2030 übersteigt das Wachstum sauberer Energiequellen das Wachstum der Stromnachfrage weltweit um 20 Prozent unter den aktuellen politischen Rahmenbedingungen und Marktbedingungen“, heißt es im neuen IEA-Report. Folge: Bis 2030 nimmt die Kohle-Nutzung um zehn Prozent ab, der Ölverbrauch von Kraftwerken geht um 50 Prozent zurück. Der Rückgang dieser fossilen Energieträger gleicht das leichte Wachstum des Gasverbrauchs von fünf Prozent mehr als aus. Erstmals steigt der CO₂-Ausstoß des Energiesystems dann nicht mehr weiter.
Herbeiführen wird diese Trendwende im Wesentlichen ein einziges Land: China. Egal, ob es um Öko-Investitionen geht, um den Einsatz erneuerbarer Energien, den Markt für Elektrofahrzeuge oder die Produktion von Energiewende-Technologien: „Wir befinden uns jetzt in einer Welt, in der fast jede Energiegeschichte im Wesentlichen eine China-Geschichte ist“, erklärte IEA-Chef Birol: Allein mit seiner Solarkraft könne China im Jahr 2030 rechnerisch den gesamten Strombedarf der USA decken.
Dass die grüne Transformation in ein Schlaraffenland niedriger Energiepreise führt, sagt die IEA gerade nicht. Im Gegenteil: „Viel größere Investitionen in Stromnetze und Speicher“ seien notwendig, mahnt die IEA. Heute wird für jeden Dollar, der für erneuerbare Energieerzeugung ausgegeben wird, rund 60 Cent in die dazugehörigen Netze und Speicher investiert, doch eigentlich müsste das Verhältnis 1:1 sein, heißt es im World Energy Outlook.
Was die Finanzierbarkeit angeht, sieht die Agentur Grund für leichten Optimismus. Denn in den kommenden Jahren dürfte sich tendenziell ein Überangebot an Gas und Öl an den Weltmärkten einstellen – selbst dann, wenn Russland und der Iran aufgrund politischer Sanktionen nicht am Welthandel teilnehmen können. Dieses Überangebot könne Preise drücken, Verbraucher entlasten und der Politik mehr Spielraum verschaffen für Investitionen in saubere Energien, glauben die IEA-Auguren.
Die Agentur weist deutlich darauf hin, dass mit den wetterabhängigen erneuerbaren Energien auch Risiken wachsen: „In vielen Regionen der Welt verschärfen sich extreme Wetterereignisse und stellen bereits jetzt große Herausforderungen für den sicheren und verlässlichen Betrieb von Energiesystemen dar“, warnt die IEA-Autoren. Im kommenden Jahr plant die Agentur deshalb erstmals eine Art Weltkonferenz für Energiesicherheit einzuberufen.
Dass die fossilen Energieträger noch vor 2030 erstmals einen Verbrauchsrückgang erleben werden, könnte auf der 29. Weltklimakonferenz, die im November in Aserbaidschan stattfindet, für einen Motivationsschub sorgen. Dennoch bleibt im Klimaschutz viel zu tun: „Basierend auf den heutigen politischen Rahmenbedingungen dürften die globalen Kohlendioxidemissionen bald ihren Höhepunkt erreichen“, heißt es zwar im IEA-Report: Aber wenn es danach nicht zu einem steilen Rückgang der Emissionen kommt, bleibt die Welt auf dem Weg zu einem Anstieg der globalen Temperatur um 2,4 Grad Celsius. Das wäre immer noch deutlich über der von den Vereinten Nationen angestrebten Erderwärmung von maximal 1,5 Grad.
Die Internationale Energieagentur legt Wert auf die Feststellung, dass es sich bei den dargestellten „Szenarien“ nicht um Prognosen handelt: Es handele sich lediglich um mögliche Entwicklungen, nicht um Vorhersagen. So basiert die Studie hauptsächlich auf dem „Stated Policies Scenario“ (STEPS): Dem liegt die Annahme zugrunde, dass alle aktuell veröffentlichten politischen Instrumente und Pläne von den Regierungen weltweit auch tatsächlich umgesetzt werden.
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