SPIEGEL ONLINE - 07. August 2004, 15:45 URL: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,312081,00.html Proteste gegen Hartz IV "Nur Unmenschen haben kein Verständnis für die Sorgen"
Während Wirtschaftsminister Clement und SPD-Generalsekretär Benneter die Montagsdemos gegen die Reformpolitik der Bundesregierung scharf kritisierten, zeigt Bundestagspräsident Thierse Verständnis für die Proteste: Die Menschen in Ostdeutschland hätten ein tiefer gehendes Gerechtigkeitsbedürfnis. | APBundestagspräsident Thierse: Verständnis für Protestwelle in Ostdeutschland | Hamburg - Die geplanten Protestmärsche seien eine Beleidigung der historischen Montagsdemonstrationen, hatte Clement kürzlich erklärt.
Thierse äußerte jetzt eine dezidiert andere Meinung zu den neuen Montagsdemonstrationen gegen die Reformvorhaben: Die Menschen in Ostdeutschland hätten "ein anderes, tiefer gehendes Gerechtigkeitsbedürfnis als ihre Mitbürger im Westen", schrieb der Bundestagspräsident in einem Gastbeitrag für die "Bild am Sonntag". Mit friedlichem Massenprotest hätten viele von ihnen schon einmal gute Erfahrungen gemacht, als sie das DDR-Regime stürzten, sagte der SPD-Vize. Er fügte hinzu, nur Unmenschen hätten kein Verständnis für die Sorgen der Menschen, wenn nicht mehr alle Ansprüche an die Solidargemeinschaft wie gewohnt befriedigt werden könnten. Allerdings seien diese Sorgen oft unbegründet, schränkte Thierse ein.
Am Montag hatten in Magdeburg 6000 Menschen gegen Hartz IV protestiert. Auch in weiteren ostdeutschen Städten sind in den nächsten Wochen Montagsdemos geplant. Clement hatte die Proteste scharf verurteilt und von einer "Beleidigung der historischen Montagsdemonstrationen" gesprochen. Diese hatten 1989 in der DDR zum Zusammenbruch des SED-Regimes geführt.
Der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Konrad Freiberg, warnte vor Ausschreitungen. "Die politische Stimmung ist derart aufgeheizt, dass ich befürchte, dass es nicht bei friedlichen Demonstrationen bleibt", sagte Freiberg.
Bundespräsident Horst Köhler versuchte unterdessen die Wogen zu glätten. "Bei der Anwendung der Hartz-Richtlinien macht der Ton die Musik", sagte er der "Bild am Sonntag". "Ich plädiere dafür, vor Ort, in den Kommunen, jeden Einzelfall genau zu betrachten." Köhler zeigte Verständnis für die Sorgen der Bürger, warnte aber vor Panikmache.
| DDPArbeitsamt-Logo: SPD-General warnt vor Schauermärchen über die Reform Hartz IV | Auch SPD-Generalsekretär Klaus Uwe Benneter rief zu "mehr Besonnenheit und weniger Hysterie" auf. Viele der Einwürfe der vergangenen Wochen hätten mit der Reform gar nichts mehr zu tun, sagte er. Manche Kritiker überböten sich "in einem wilden Wettbewerb der Schauermärchen und mobilisierten die Ängste von Betroffenen".
Innerhalb der SPD plädierte der konservative Seeheimer Kreis an die Parteispitze, die SPD solle an der Hartz IV-Reform festhalten und dafür bei den im September anstehenden Landtags- und Kommunalwahlen Niederlagen in Kauf zu nehmen. "Die SPD muss die richtige Politik, die Clement und die Regierung machen, auch um den Preis von Wahlniederlagen durchziehen", sagte Seeheimer-Sprecher Klaas Hübner der Tageszeitung "Die Welt". Wenn die SPD Hartz IV jetzt noch ändere, verschöbe oder zurücknähme, würde sie alles Geleistete konterkarieren. Hübner rief seine Partei dazu auf, "jetzt die Nerven zu behalten". Er räumte allerdings ein, dass es der SPD bisher nicht gelungen sei, das komplizierte Regelwerk von Hartz IV den Menschen nahe zu bringen.
Leipziger Pfarrer weist Kritik zurück
Grünen-Chef Bütikofer appellierte an die Gewerkschaften, die Regierung nicht im Stich zu lassen. "Unsere Gesellschaft kann bei den Reformen besser vorankommen, wenn die Gewerkschaften mitziehen", sagte er der "Leipziger Volkszeitung". Er beklagte, dass es in der Diskussion um die Arbeitsmarktreformen mittlerweile "schon hysterische Elemente" gebe. Wenn beispielsweise suggeriert werde, dass man den Kindern das Spielzeug wegnehmen wolle, dann sei dies ein "verantwortungsloses Schüren von Ängsten".
Der PDS warf er vor, mit ihrer Kampagne gegen Hartz IV den Rechtsradikalen in die Hände zu spielen. Mecklenburg-Vorpommerns PDS-Arbeitsminister Helmut Holter wies die Vorwürfe zurück. Hartz IV sei ungerecht und der tiefste soziale Einschnitt seit Bestehen der Bundesrepublik. Da müsse die PDS deutlich sagen, was sie davon hält, sagte Holter im Norddeutschen Rundfunk. Dass am rechten Rand Trittbrettfahrer aufträten, "damit muss man leben. Das hat aber nicht die PDS verursacht".
Unterdessen hat der Leipziger Pfarrer Christian Führer die Kritik von Clement zurückgewiesen. Der Organisator der Leipziger Friedensgebete, die 1989 den Sturz des SED-Regimes einleiteten, sagte der "Mittelbayerischen Zeitung" (Samstagausgabe): "Ich wundere mich, wenn hochrangige Politiker derart gegen Demonstrationen zu Felde ziehen. Demonstrationen sind ein legitimes politisches Mittel in einer Demokratie."
Die Unterstellung, man setze die DDR mit der Bundesrepublik gleich, sei völlig abwegig, sagte er. Das Motto "Ihr könnt gegen die Kommunisten demonstrieren, aber jetzt haltet die Klappe" funktioniere in der Demokratie nicht. In Leipzig werde es weiterhin Friedensgebete und Demonstrationen für soziale Gerechtigkeit geben, betonte er.
Debatte um Auszahlungstermin
Neben dem Streit um Sinn, Zweck und die Bedeutung der Protestmärsche gegen die die Reformpolitik der Bundesregierung ist inzwischen auch eine Debatte um den Auszahlungstermin des neuen Arbeitslosengeldes entbrannt: Bundeswirtschaftsminister Clement will bisherigen Beziehern der Arbeitslosenhilfe erst im Februar 2005 erstmals das ALG II zubilligen. Sie erhalten im Gegensatz zu Sozialhilfeempfängern Ende Dezember letztmalig die alte Unterstützung. Der grüne Bundesumweltminister Jürgen Trittin forderte hingegen, es dürfe für die Empfänger keine Lücke entstehen. Trittin: "Niemand kann mit einem Satz zwei Monatsmieten, also von Dezember und Januar bezahlen." SPD-Vorstandsmitglied Niels Annen bemängelte, das lange Beharren von Clement auf einer ersten Auszahlung im Februar sei "ein abenteuerlicher Kurs".
Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) unterstrich: "Es muss im Jahr 2005 zwölf Zahlungstermine geben. Alles andere ist nicht hinnehmbar." Eine Entscheidung soll nach Angaben der Bundesregierung Anfang September bei einer Kabinettsklausur fallen.
Änderungen am Auszahlungstermin hat bereits SPD-Chef Franz Müntefering angedeutet. Dies geht vielen Sozialdemokraten aber offenbar nicht weit genug. Laut einem SPIEGEL-Bericht schrieb der SPD-Arbeitsmarktexperte Klaus Brandner an Clement, dass die Härtefall-Regelungen für die Anrechnung von Vermögen und Immobilien präzisiert und die Zuverdienstmöglichkeiten für Langzeitarbeitslose verbessert werden sollten. Sachsens SPD-Fraktionschef Thomas Jurk forderte, Datschen bei Hartz IV nicht zum Vermögen zu rechnen.
Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt forderte die Bundesregierung indes auf, am ursprünglich geplanten Auszahlungstermin festzuhalten. "Ich unterstütze die Position von Wirtschaftsminister Clement hinsichtlich des Auszahlungstermins nachdrücklich", sagte Hundt der "Stuttgarter Zeitung".
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