Hier ist er (ich schwöre, es ist der Anfang):
"In Frankreich", sagte ich, "versteht man sich besser darauf." "Sie waren in Frankreich?" sagte der Herr und wandte sich mir rasch zu mit dem höflichsten Triumph von der Welt. "Seltsam!" sagte ich, als ich darüber nachdachte, "dass eine Seereise von einundzwanzig Meilen -- und es ist durchaus nicht weiter von Dover nach Calais -- einem Menschen solche Rechte verleihen sollte. Ich werde ihnen auf den Grund gehen." Damit gab ich die Überlegung auf, ging geradewegs in meine Wohnung, packte ein halbes Dutzend Hemden und eine schwarzseidene Hose ein -- "der Rock, den ich anhabe", sagte ich und besah mir den Ärmel, "geht noch" -- setzte mich in die Postkutsche nach Dover und -- da das Schiff am nächsten Morgen um neun abfuhr -- saß schon um drei bei Tisch über einem frikassierten Huhn so unbestreitbar in Frankreich, dass ...
In diesem Text wird ein unglaubliches Tempo vorgelegt, von einer beiläufigen Unterhaltung bis zu Reisevorbereitungen, Reiseantritt samt Ankunft ... in nur wenigen Zeilen. Ich erinnere mich, dass ich im Deutschunterricht in der Schule gelernt habe, dass man Aufsätze, also Erzählungen, "lebendig" beginnen lassen soll, ein guter Kunstgriff sei, direkt mit einer wörtlichen Rede zu beginnen. Das haben wir Schüler dann notgedrungen praktiziert, die Ergebnisse müssen entsetzlich albern gewesen sein. Dieser obige Text ist freilich aus dem 18. Jahrhundert, und den gutgemeinten Ratschlägen aus dem Deutschunterricht also um Jahrhunderte voraus. Ja, man soll lebendig beginnen, mitten in der Handlung, aber inmitten von welcher Handlung eigentlich bitte? Tja, das erfährt man nie. Man erfährt nie wieder, wovon in den ersten Zeilen eigentlich die Rede war. Der Gebrauch des Wortes "darauf" im ersten Satz, ohne jede Auflösung, worauf es sich bezieht und besser als was, ... für den Deutschlehrer eine einzige Katastrophe! Aber es scheint, dass die Entwicklung der Ereignisse eben so schnell verläuft, dass der Romanautor schier gar nicht hinterherkommen konnte. Da hat er es einfach vergessen, diese Episode zuende zu erzählen. Das ist einer der Gründe, warum ich diesen Romananfang für einen der kunstvollsten halte, die es je gab.
Es ist auch deshalb kunstvoll, so zu schreiben, weil es ebenso schiefgehen könnte. Der schlechteste Romananfang aller Zeiten, soweit ich Romane kenne, verfährt nämlich oberflächlich betrachtet ganz ähnlich. Mit "lebendiger" direkter Rede "mittenhinein". Das ist der Anfang von Iwan Turgenjews Klassiker "Väter und Söhne", und ich habe Schwierigkeiten, ihn hier zu zitieren, weil ich das Buch nicht mehr habe. Ich habe es beim letzten Umzug weggeschmissen. Den Gogol habe ich mitgenommen und den Dostojevskij (letzteren nach wie vor ungelesen), und sogar den Leskov. Den Turgenjew habe ich weggeschmissen. Also zitiere ich ihn aus einer Internetquelle:
»Nun, Peter, siehst du noch nichts?« So fragte am 20. Mai 1859 auf der Landstraße nach X... in Rußland ein Mann von 45 Jahren, der in einem Paletot und karierten Beinkleidern, barhäuptig und staubbedeckt vor der Tür einer Schenke stand. Der Bediente, an den er diese Frage richtete, war...
Jaja, direkte Rede, mittenhinein. Wenn auch enorm trivial, was und wie da gesprochen wird! Aber außerdem kommt der Text dann sofort mit knirschenden Bremsen zum völligen Stillstand, weil erst das genaue Datum herausgesucht werden soll (Wochentag fehlt!), Personalien des Sprechers (Geburtsort fehlt) und die Garderobe. Unbeschreiblich plump! Man schaue sich den direkten Vergleich zu Sterne an, der kurioserweise die Garderobe ebenfalls bringt, aber wie leichtfüßig sie eingeflochten wird und wie schnell sie vorbeihuscht. Nichts stört!
*
Der Romanschluss bei Sterne wird hingegen nicht verraten! (Ich habe gelesen, "Yoricks empfindsame Reise" sei ein unvollendeter Text, weil der Autor darüber verstorben ist, aber ich persönlich möchte den Schluss auf jeden Fall für ebenso gewagt und ebenso kunstvoll halten wie den Anfang und für ganz und gar absichtlich).
|