Unnachgiebige Richter
In der Union haben alle Mitgliedstaaten die gleichen Rechte und Pflichten, und die Rollen der verschiedenen EU-Institutionen sind klar definiert. Darin liegt die besondere Attraktivität des europäischen Einigungswerkes - vor allem für die kleinen und mittleren Mitgliedstaaten. Mit seinem klaren und zugleich subtilen Urteil hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) am Dienstag einmal mehr bestätigt, dass Recht vor Macht kommen muss. Die beiden grossen Länder Deutschland und Frankreich, die glaubten, den EU-Wachstums- und Stabilitätspakt willkürlich und unter Umgehung der Europäischen Kommission auslegen zu können, sind von ihm in die Schranken gewiesen worden. Der Spruch der Richter in Luxemburg muss Balsam sein für die Kommission. Sie hat mit ihrer Klage vor dem EuGH zwar nicht in allen Punkten obsiegt. Aber im zentralen Punkt hat die «Hüterin der Verträge» Recht bekommen: Die von Deutschland und Frankreich mit der Brechstange im EU- Finanzministerrat vom vergangenen November durchgesetzte Entscheidung, die gegen sie laufenden Defizitverfahren auf Eis zu legen, hat der EuGH für nichtig erklärt. Er tat dies mit dem Hinweis, der damalige Entscheid sei so, wie er zustande kam, nämlich ohne eine Empfehlung der Kommission, mit dem EU-Recht nicht vereinbar.
Die Urteilsbegründung des EuGH erklärt, weshalb sein Spruch nicht nur von der Kommission und den Mitgliedstaaten, die den Ratsbeschluss vom November nicht mittrugen, mit Genugtuung zur Kenntnis genommen wurde, sondern selbst von der Regierung Schröder. In Berlin wird in ersten Kommentaren hervorgehoben, das Gericht in Luxemburg habe bestätigt, dass es beim Defizitverfahren keinen Automatismus gebe. Tatsächlich impliziert das Urteil nicht, dass «Defizitsünder» zwingend mit pekuniären Sanktionen rechnen müssen. Damit ist auch gleich gesagt, dass weiterhin keine Gewissheit über die Zukunft des Stabilitätspakts besteht. Bleibt er bloss ein Fetzen Papier, oder wird er sich doch noch als griffiges Instrument entpuppen, das finanzpolitische Solidität im Euro-Raum sicherstellt und damit das Vertrauen in die noch junge europäische Einheitswährung stärkt? Zweierlei scheint ziemlich sicher. Zum einen werden Deutschland und Frankreich, die wiederholt gegen den Stabilitätspakt verstossen haben, keine Sanktionen befürchten müssen - welchen Lauf die Defizitverfahren gegen diese beiden Länder auch nehmen werden. Zum andern dürfte der Vertrag über kurz oder lang so umformuliert werden, dass die Grenze der jährlichen Neuverschuldung von 3% des Bruttoinlandprodukts zwar bleibt, fehlbaren Ländern jedoch mehr Flexibilität bei der Rückkehr auf den Pfad der Tugend zugestanden wird. Ein solcher Kompromiss wäre gewiss nicht im Sinn der Väter des Stabilitätspakts, aber es bliebe wenigstens die Hoffnung, dass die finanzpolitischen Dämme nicht vollends brechen werden. Neue Zürcher Zeitung Zürich
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