Früher und heftiger als üblich ist die deutsche Sommerflaute zu einem Ende gekommen. Eine vielstimmige Protestfront hat das Land erfasst und Turbulenzen nicht nur in die Politik getragen, sondern die gesamte Gesellschaft kräftig durchgeschüttelt. Wie ein Spuk erscheinen die jüngsten Demonstrationen in mehreren ostdeutschen Städten, bei denen wieder der ominöse Ruf «Wir sind das Volk!» erschallt und der Sturz der Obrigkeit gefordert wird. Unwillkürlich denkt man an die gespenstischen Nebel-Abende des ausgehenden Jahres 1989, als sich die Bevölkerung der DDR zu Hunderttausenden gegen die SED-Tyrannei auflehnte und diese schliesslich hinwegfegte. Aber der Vergleich ist vermessen und vollkommen deplaciert. Andere Probleme drücken heute das Volk, und andere Akteure erheben ihre Stimme.
Der jetzige Aufruhr findet in einer freien, wohlhabenden Gesellschaft statt, die sich ihr Staatswesen selbst geschaffen hat. Allerdings mutet die gewählte Regierung Schröder den Deutschen einiges zu. Das Reformprogramm des Kanzlers ist wohl deshalb in so heftigen Gegenwind geraten, weil nun langsam allen dämmert, dass die staatlichen Sparanstrengungen auch den privaten Bereich tangieren und Opfer von allen verlangen werden. Zuvor war die deutsche Reformdebatte allzu lange in abstrakten Bahnen verlaufen. Ihr Inhalt war nicht ernst genommen worden, weil es seit Bestehen der Bundesrepublik nie wirklich um eine Schmälerung der sozialen Leistungen gegangen war. Aber nun wird zur Tatsache, was viele nicht zu denken wagten: Der Staat dehnt seinen Sparwillen auch auf den sozialen Bereich aus und bricht damit ein vermeintliches Tabu.
Dass dies ausgerechnet unter einer sozialdemokratisch dominierten Führung geschieht, verdeutlicht den Ernst der Lage. Deutschland wird seine chronische Arbeitslosigkeit nicht los. Seit sechs Jahren sucht die rot-grüne Regierung intensiv nach Lösungen zur Bekämpfung dieser Geissel und zieht zunehmend harte Massnahmen in Betracht. Ein Element der Reformanstrengungen ist die Straffung und Umschichtung der Arbeitslosenunterstützung, mit welcher zwar auch Einsparungen anvisiert werden, die vor allem aber dazu führen soll, dass der gegenwärtig geringe Anreiz zur Suche nach einer neuen Arbeit verstärkt wird. Einer der meistkritisierten Reformbegriffe ist jener der verschärften Zumutbarkeit, aus der sich ableiten lässt, dass der Prozess der Arbeitssuche beschleunigt werden soll.
Es sind vor allem solche Massnahmen, welche sogleich zu ideologisch motivierten Auseinandersetzungen geführt haben. Vor diesem Hintergrund hat sich eine recht heterogene Kritikerschar aus altlinken Politzirkeln, Gewerkschaften und Globalisierungsgegnern etabliert, die sich trefflich in Szene zu setzen weiss. Ein «Sozialabbau» dürfe keinesfalls zugelassen werden, heisst es in diesen Kreisen, der Kapitalismus zeige nun seine wahre Fratze, und Schröder müsse weg. Vor allem in Ostdeutschland fallen solch krude Argumentationen durchaus auf fruchtbaren Boden. Schlagzeilengierige Medien heizen den Konflikt mit deftigen Schicksalsgeschichten über die neue Herzlosigkeit der deutschen Politik an.
«Hartz IV», wie dieses Massnahmenpaket in Schröders Reformprogramm heisst, ist freilich viel komplexer als allgemein dargestellt, und es enthüllt bei genauerer Betrachtung auch Entlastungen für wirklich Bedürftige. Somit drängt sich die Frage auf, wieso über diese positiven Aspekte nicht intensiver geredet und berichtet wird und warum derart durchsichtige Polemik, wie sie zurzeit die Debatte prägt, überhaupt ihre Wirkung entfalten konnte.
In der Tat müssen sich Schröder und seine Reformer den Vorwurf gefallen lassen, dass sie die Unumgänglichkeit von Einschnitten auch bei den Sozialleistungen nicht drastisch genug vermittelt haben. Mehrmals hätte die Gelegenheit dazu bestanden, aber die Verlockung, über neue Schulden einen Teil der Auswirkungen wieder abzufedern und andere Massnahmen aus wahltaktischen Motiven einfach zu verschieben, war zu gross. Die Reformpolitik harzte weniger an einem Mangel an Ideen und Konzepten als an deren politischer Umsetzung. Dabei war längst klar, dass die bisherige Sozialpolitik nicht länger aufrechtzuerhalten war.
Die Vorschläge der Hartz-Kommission, wie auch die Konzepte anderer Planungsgremien, versuchen diesem Umstand Rechnung zu tragen. Sie sind auf eine langfristige Konsolidierung der Sozialleistungen ausgelegt, nicht auf kurzlebige Effekte. Das macht sie freilich verwundbar für die Attacken von Gegnern, die spezifische Interessen vertreten wie die Gewerkschaften oder die die Marktwirtschaft gleich ganz abschaffen wollen wie die Globalisierungsgegner. Bemerkenswert ist, dass auch rechtsextreme Kreise mitmischen und die soziale Unrast auszunützen suchen. Doch was haben die Kritiker anzubieten? Mit ihren Umverteilungsmaximen wird die soziale Gerechtigkeit, die sie postulieren, in ihr Gegenteil verkehrt, weil so noch mehr Arbeitsplätze vernichtet werden. Mehrere unsinnige Lohnstreiks, nicht zuletzt in dem jetzt unruhigen Ostdeutschland, haben diesen tristen Mechanismus verdeutlicht.
Und trotzdem wird Schröder, so wie sich die Lage nach den Ereignissen dieser Woche präsentiert, dem Druck der Strasse nachgeben und zumindest einige Kanten seines Hartz-Konzeptes entschärfen. Dies wäre an sich kaum so gravierend, geschähe es nicht unter dem Lärm einer politisch kaum beherrschbaren, programmlosen Protestbewegung. Das Risiko ist sehr gross, dass durch ein Nachgeben erst recht der Appetit auf weitere Konzessionen geweckt wird. Die Gegner werden sich mit höheren Freibeträgen auf Kindersparbüchern oder sanfteren Zumutbarkeitsregeln nicht zufrieden geben, sondern nicht weniger als den Sturz des Kanzlers betreiben.
Schröder ist nie ein Herr der Programme gewesen. Seine Macht ruht auf einem Fundament, dessen Konturen meistens diffus sind, das aber irgendwie doch Halt bietet. Dies hat ihm Manövrierraum nach links und nach rechts gelassen, den er in nüchternem Tageskalkül immer wieder neu definiert und dem er öfters auch die Kohärenz seiner Reformanstrengungen geopfert hat. Fast regelmässig war dies vor Wahlen der Fall - ein Phänomen, das keineswegs nur den politischen Stil Gerhard Schröders kennzeichnet. Aber der Kanzler ist ein Könner auf diesem Felde.
Nun freilich könnte es sein, dass diese Methode endgültig nicht mehr greift. Schröder hat die Linke, auch jene innerhalb der SPD, verloren. Seinen angeblichen Raubbau an den sozialen Errungenschaften verzeiht man ihm dort nicht. Wenn er ihr jetzt wieder nachgibt, wird sie hart bleiben, denn für sie ist er ein Verräter. Die rechte Opposition hingegen, die in letzter Zeit höchst hilflos und zerstritten gewirkt hatte und sich nicht auf eine kohärente Gegenposition in den sozialen Fragen einigen konnte, wittert wieder Morgenluft. Nichts hatte man dort angesichts der eigenen Defizite mehr gefürchtet als eine harte Reformlinie Schröders, die gar manche der bürgerlichen Einflussmöglichkeiten neutralisiert hätte. So aber kann man bei CDU und CSU nun mit ruhiger Zuversicht den kommenden Urnengängen in Deutschland entgegensehen. Es könnte sich also schon bald erweisen, dass der Kanzler in diesen Tagen die vielleicht letzte Möglichkeit verpasst hat, den langen Niedergang seiner Herrschaft zu stoppen.
NZZ 14.08.04 Die NZZ eine der rennomiertesten Zeitungen im deutschsprachigen Raum.
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