Wer ist David?
Vom asymmetrischen Kriege/
Von Herfried Münkler
Der jüngste Libanon-Krieg hatte kaum begonnen, als die israelische Seite schon mit Forderungen nach der Verhältnismäßigkeit des Waffeneinsatzes konfrontiert wurde. Daß diese Forderung nicht auch gegenüber der Hizbullah erhoben wurde, konnte zweierlei heißen: daß man sie als den Angreifer ausgemacht hatte, der ohnehin "unverhältnismäßig" agierte, oder daß man die militärische Überlegenheit der Israelis im Auge hatte, von der man annahm, sie erst befähige zu "unverhältnismäßigem" Reagieren, während derlei von der als schwach eingeschätzten Hizbullah gar nicht erst erwartet wurde. Und so waren die Mahner zur Verhältnismäßigkeit, ehe sie sich's versahen, zum Mitspieler in einer asymmetrischen Konfrontation geworden. Konkret: Indem sie Verhältnismäßigkeit einforderten, ergriffen sie Partei, und zwar gegen den, an den sie ihre Forderung nach Verhältnismäßigkeit adressierten.
Das ist das Vertrackte an asymmetrischen Konstellationen: daß sie die Position eines neutralen Beobachters kaum zulassen, sondern jeden, der sich zu dem Konflikt verhält, zur Partei machen. In jüngster Zeit ist bei der Charakterisierung der gegenwärtigen kriegerischen Konflikte häufig von Asymmetrie die Rede gewesen. Aber den wenigsten, die den Begriff gebrauchten, scheint die Bedeutung des damit Bezeichneten klargeworden zu sein. Asymmetrie ist nämlich nicht auf die operativen Konstellationen des unmittelbaren Kampfgeschehens beschränkt, sondern erfaßt die gesamte Konfrontation, eingeschlossen die Möglichkeit ihrer Beobachtung, Kommunizierung und vor allem Verbildlichung.
Man kann sich das an der vertrauten David-Goliath-Konstellation, dem Paradigma der Asymmetrie, vor Augen führen: Hätte Goliath den Kampf gewonnen, etwa indem er mit einer Drehbewegung seines gewaltigen Spießes den kleinen Angreifer zermalmt hätte, so wäre ihm das nicht als bemerkenswerter Erfolg angerechnet, sondern als Selbstverständlichkeit verbucht worden, wobei er sich nicht fair verhalten habe. David dagegen wird mit solchen Fairness-Anmutungen nie konfrontiert: davor schützt ihn seine Unterlegenheit. Wir billigen ihm zu, was wir im Falle Goliaths strikt ablehnen würden. Die Forderung nach Verhältnismäßigkeit des Gewaltgebrauchs richtet sich immer nur an Goliath, nie an David.
Die Hegungen der Kriegsgewalt, sei es durch das Ethos der Ritterlichkeit, sei es durch die Normen und Regeln des Kriegsvölkerrechts, betreffen bloß die Goliaths. Sie zielen darauf, die Dynamik der Eskalation zu zähmen. Die Voraussetzung dafür ist die Gleichartigkeit, also die Symmetrie der Kämpfenden. Von einer Begrenzung der Eskalationsdynamik durch Verhältnismäßigkeitsregeln kann in der Konfrontation zwischen David und Goliath nicht die Rede sein. Mit seiner Schleuder hat David den Kampf eröffnet, als Goliath damit noch gar nicht gerechnet hat. Wahrscheinlich hat er die Schleuder für keine ernst zu nehmende Waffe gehalten, stand sie doch in keinem Verhältnis zu Schwert, Schild und Spieß, mit denen er sich in den Kampf begeben hatte. Will man es pointieren: Goliath ist seiner Fixierung auf Symmetrie zum Opfer gefallen.
Inzwischen haben die Goliaths in aller Welt gelernt: Sie suchen die Davids auszuschalten, bevor sie ihre Schleuder einsatzbereit gemacht haben. Freilich: Der David, der den Präventionsschlägen der Goliaths zum Opfer fällt, erscheint uns nicht als gescheiterter Listiger, sondern als "unschuldiger Zivilist". Der auf seine Selbsterhaltung bedachte Goliath setzt sich in den Augen der Beobachter ins Unrecht - oder er verliert den Kampf.
Unter diesen Umständen ist es naheliegend, daß nicht nur ein jeder David sein will, sondern auch alles daransetzt, den Gegner in die Goliath-Rolle hineinzumanövrieren. Die Geschichte der Kriege im Nahen Osten nach 1948 ist auch ein Kampf um die Verteilung der David- und Goliath-Position. Klassisch ist dabei den Israelis die David-Position zugekommen: Angesichts der erdrückenden Übermacht der arabischen Staaten kam es ein ums andere Mal einem Wunder gleich, daß sich Israel nicht nur behaupten, sondern auch siegreich durchsetzen konnte. Es war Jassir Arafats nachhaltiger Erfolg, daß ihm der Rollentausch gelang: die Palästinenser als David, die Israelis als Goliath.
Im Prinzip geht dieser Rollentausch auf einen Mediencoup zurück, bei dem für die Kameras der Weltöffentlichkeit mit Schleuder bewaffnete palästinensische Jugendliche gegen mit Stahlhelmen, Schutzwesten und Schnellfeuergewehren ausgestattete israelische Soldaten antraten. Der entscheidende Kampf wurde also um die Sichtbarkeitsverhältnisse ausgetragen. Wer sich hier durchsetzte, trug den strategischen Erfolg davon, mochte er auf dem Gefechtsfeld auch weiterhin Niederlagen einstecken. War man erst einmal David, kam es gar nicht mehr darauf an, daß Goliath besiegt wurde. Auch ein toter David war ein Erfolg, zeigte er doch die Scheußlichkeit des schrecklichen Goliath.
Die systematische Asymmetrierung des Kriegsgeschehens in den beiden zurückliegenden Jahrzehnten ist nicht nur auf die strategische Kreativität der Konfliktparteien beschränkt geblieben, sondern hat auch die politische Rationalität sowie die völkerrechtliche Legitimität erfaßt. Der Kampf auf dem Gefechtsfeld wird vom Kampf um die Sichtbarkeitsverhältnisse im Krieg überlagert. Die israelische Seite war der Weltöffentlichkeit sichtbar in Gestalt von Kabinettssitzungen, Truppenmassierungen, Attacken der Luftwaffe, schließlich dem Abtransport Verwundeter und der Bestattung Getöteter. Ihr Gegner, die Hizbullah, zeigte sich dagegen bloß in Fernsehansprachen Scheich Nasrallahs, in einigen Kampfentschlossenheit bekundenden Demonstranten und vor allem in Flüchtlingen und zahllosen Zivilopfern. Im Kern lief die Bebilderung des Konflikts auf die Gegenüberstellung martialischer Soldaten und "unschuldiger Zivilisten" hinaus.
Wer Goliath war, blieb immer deutlich erkennbar, wohingegen David ständig die Erscheinung wechselte: einmal als erfolgreicher Bodenkämpfer, der einen feindlichen Panzer abgeschossen hatte, dann wieder als Zivilist, der entgegen den Konventionen getötet worden war. Natürlich sind im jüngsten Libanon-Krieg auch wirkliche Zivilisten getötet worden, und wahrscheinlich sind dies von der Gesamtzahl her sogar die meisten der Opfer. Aber keinem toten Zivilisten ist anzusehen, ob es sich bei ihm nicht um einen David handelte, der im Begriff stand, Goliath anzugreifen.
Aber hätten die Israelis, die all dies doch antizipieren konnten, diese für sie verheerenden Bilder nicht vermeiden können, indem sie auf die militärische Konfrontation mit der Hizbullah verzichtet und statt dessen auf eine politische Lösung gesetzt hätten? Die Taktik der Provokation, deren sich die Hizbullah seit langem mit großem Geschick bedienten, zielt ja gerade auf für den Provozierten ungünstige Sichtbarkeitsverhältnisse: Die Provokationen bleiben unsichtbar, die Reaktion aber findet sichtbar statt. Wäre es unter diesen Umständen nicht besser und vernünftiger gewesen, auf jede militärische Reaktion zu verzichten? Nach dem Motto: Der Klügere läßt sich nicht provozieren und hält sich zurück. Diese Vorstellung dürfte hinter manchen Verhältnismäßigkeitsforderungen gestanden haben.
Aber das Modell des Sich-nicht-provozieren-Lassens übersieht die Bedeutung von Reputation und Prestige in diesen Konflikten. Goliath ist eine abschreckende Kriegsmaschine, und wenn sich über Wochen keiner aus dem Heer Sauls getraut hatte, gegen ihn anzutreten, dann deswegen, weil er in einem offenen Kampf mit großer Wahrscheinlichkeit den kürzeren gezogen hätte. Die Existenz von Goliaths dient auch der Kriegsvermeidung: Deswegen ist es für politische Akteure attraktiv, die Gestalt eines Goliath anzunehmen. Man vermeidet so, permanent kämpfen zu müssen, und zwar gegen jeden, der sein Mütchen kühlen will. Aber Goliath ist nur, wer auch reagiert, wenn die Provokationen ein bestimmtes Maß überschritten haben. Ein Goliath, mit dem man beliebige Spielchen treiben kann, ist bloß ein tumber Tor. Wer den Abschreckungsmehrwert der Goliath-Position einstreichen will, kann sich nicht endlos provozieren lassen.
Asymmetrische Konflikte haben eine gänzlich andere Lern- und Reaktionsdynamik als die Duellkonstellationen. Dabei ist Asymmetrie sehr genau zu unterscheiden von Über- beziehungsweise Unterlegenheit. Es gibt stärkere und schwächere Goliaths; der eine ist dem anderen überlegen, aber im Prinzip sind sie gleichartig. Unter diesen Umständen kann es unverhältnismäßig oder unfair sein, wenn der Stärkere gegen den Schwächeren seine ganze Überlegenheit zum Tragen bringt. Asymmetrie ist etwas anderes: Anstatt sich auf die schrittweise Kompensation von Unterlegenheit zu konzentrieren, sucht sie Unterlegenheit in Überlegenheit zu verwandeln. David hat es abgelehnt, in der Rüstung Sauls gegen Goliath anzutreten. Statt dessen hat er auf ganz andere Fähigkeiten als die von Goliath verkörperten gesetzt.
Wenn die Entwicklung militärischer Überlegenheit seit Napoleon in der größeren Fähigkeit zur Beschleunigung liegt, also in der Geschwindigkeit des Agierens und Reagierens, so besteht Asymmetrierung darin, der Beschleunigung die Fähigkeit der Verlangsamung entgegenzusetzen. Die eine Seite setzt auf die Luftwaffe, deren hochentwickelte Technologie und entsprechend geschultes Personal. Die andere verzichtet darauf hinterherzuhinken, sondern bildet opferbereite Bodenkämpfer aus, die sich im Gelände festkrallen und der Gegenseite einen verlustreichen Kampf Mann gegen Mann aufzwingen. Zur Asymmetrie gehört, daß diese nach Partisanenart operierenden Bodenkämpfer sich gegen Attacken aus der Luft nicht durch moderne Luftabwehrsysteme schützen, sondern daß diese Funktion die Bilder von den "unschuldigen Zivilisten" übernehmen. Sie sind ein elementares Moment der asymmetrischen Entschleunigung durch gesteigerte Opferbereitschaft.
Der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler legte jüngst gesammelte Studien zum "Wandel des Krieges" vor (F.A.Z. vom 28. Juli). Sie sind erschienen im Velbrück Verlag, Weilerswist 2006.
Text: F.A.Z., 19.08.2006, Nr. 192 / Seite 31
MfG kiiwii
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