von Stefan Meiser
Stefan Meister ist Leiter des Programms Internationale Ordnung und Demokratie bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Zuvor leitete der Politikwissenschaftler das Südkaukasus-Büro der Heinrich-Böll-Stiftung und das Robert Bosch-Zentrum für Mittel- und Osteuropa, Russland und Zentralasien der DGAP. Meister warnt: Mit Propaganda und Desinformation versucht die russische Führung die Diskurshoheit über den Ukraine-Krieg zu erlangen.
Überall Nazis und immer kurz vorm Atomschlag: Die russische Führung weiß genau, wie sie die Debatten im Westen manipulieren kann. Politik und Medien müssen wachsam sein.
Wenn der russische Außenminister Sergei Lawrow über die Gefahr eines dritten Weltkriegs spricht, Russlands Präsident Wladimir Putin "Konsequenzen, wie man sie noch nicht gesehen hat" androht oder er von "Faschisten in der Ukraine" redet, dann werden diese Worte russischer Führungseliten nicht nur in den deutschen Medien prominent zitiert. Sie rufen Ängste vor einem Atomkrieg hervor, es wird ernsthaft diskutiert, ob es tatsächlich Faschisten in der Ukraine gibt und ob Russland nicht in der Ukraine einmarschiert ist, weil es von der Nato provoziert worden sei.
Diese Diskussionen in der deutschen und internationalen Öffentlichkeit sind das Ergebnis von Desinformationen, die gezielt durch die russische Führung verbreitet werden. Als ehemaliger KGB-Agent weiß Präsident Putin sehr genau, was Zersetzung und Propaganda bedeuten und bewirken kann. Der Gegner soll verunsichert werden, abgelenkt von den eigentlich wichtigen Fragen – und stattdessen Debatten führen, die künstlich erzeugt werden.
Die deutsche Öffentlichkeit und Politik müssen sich also bewusst sein: Solche Äußerungen rutschen führenden russischen Politikern nicht einfach heraus. Sie sind Teil einer umfassenden Manipulationsstrategie im europäischen und internationalen Informationsraum.
Dabei werden gezielt Ängste geschürt und vorhandene Ressentiments gegen die USA oder Juden verstärkt. Wenn Lawrow behauptet, dass es "Neonazis in der ukrainischen Regierung" gebe und "Juden die größten Antisemiten" seien, ist das kein Versehen, sondern eine bewusste Provokation mit klarem Ziel: Diese antisemitischen Aussagen des russischen Außenministers dienen der Enttabuisierung des Faschismusvorwurfes gegenüber der ukrainischen Führung und finden auch in unseren Gesellschaften sowie weltweit einen Resonanzraum. Gleichzeitig lenken sie von anderen Fragen ab, die den Krieg und Russlands Rolle darin betreffen.
Nur eine andere Meinung?
In demokratischen und pluralistischen Gesellschaften sollen unabhängige Medien auch die Meinungen der anderen Seite darstellen und diese im Diskurs reflektieren. Ziel ist es, möglichst umfassend und basierend auf Fakten zur öffentlichen Meinungsbildung beizutragen. Genau das nutzt die russische Führung und ihre Propaganda, indem sie gezielt durch Drohungen verunsichert sowie Lügen und Halbwahrheiten verbreitet.
Und das erfolgt nicht nur durch russische staatliche Medien und Auslandssender wie RT, sondern auch durch führende Vertreter des russischen Staates. Sie sind Teil der russischen (Des-)informationskampagnen, die politische Debatten und öffentliche Meinung in anderen Staaten manipulieren.
Während Putin im Kontext der Annexion der Krim 2014 etwa erst jegliche Beteiligung russischer Truppen negierte und die deutsche Öffentlichkeit über die ominösen "grünen Männchen" diskutierte, gab er irgendwann zu, dass russische Sondereinheiten entsandt worden seien. Am Ende war der russische Präsident sogar stolz auf diese "Spezialoperation" und verlieh den beteiligten Soldaten öffentlich Orden.
Desinformation leicht gemacht
Die Beeinflussung von Debatten durch führende russische Staatsvertreter funktioniert insbesondere in offenen Gesellschaften. Dabei werden sie in den öffentlichen Diskursen als Vertreter ihres Landes zitiert und schaffen es in die Schlagzeilen der großen Mainstream- und Qualitätsmedien. Erfolgreicher kann Desinformation nicht sein, es braucht keine Trolle oder gekaufte Verstärker in den Zielländern: Allein durch ihre Position bringen Regierungsvertreter exklusiv ihre Narrative in die öffentlichen Debatten europäischer Staaten.
Sie können damit sogar politische Entscheidungen beeinflussen. Insbesondere die deutsche Politik hat traditionell auf solche Drohungen und Falschaussagen reagiert, indem sie immer versucht hat, die sogenannten russischen Bedenken zu berücksichtigen. Sei es bei einem möglichen Nato-Beitritt der Ukraine und Georgiens 2008 sowie mit Blick auf die "legitimen" russischen Sicherheitsinteressen. Wenn Bundeskanzler Olaf Scholz vor einem Atomkrieg warnt und deshalb vor der Lieferung schwerer Waffen zunächst zurückschreckt, dann beeinflusst diese Propaganda Entscheidungen der deutschen Politik. Das Ziel, sich nicht in einen Krieg ziehen zu lassen, um eine Eskalation mit einer Atommacht zu verhindern, ist eine Reaktion auf das Narrativ der russischen Führung, die ja mit "umfassenden Konsequenzen" gedroht hat. Je ungenauer diese Aussagen sind, desto mehr Interpretations- und Manipulationsspielraum lassen sie offen.
Sicher kann nicht ausgeschlossen werden, dass Russland unter bestimmten Bedingungen taktische Nuklearwaffen einsetzt, wie das in der russischen Sicherheitsstrategie vorgesehen ist. Aber davon sind wir weit entfernt und die russische Führung wird sich aktuell hüten, den Krieg so weit zu eskalieren, dass sie sich selbst vernichtet oder durch eine Abschreckungsgeste mit einer Atomwaffe westliche Staaten noch stärker eingreifen.
Das Spielen mit der Möglichkeit eines Atomkrieges dient vor allem dazu, die öffentliche Meinung in Deutschland und anderen europäischen Staaten zu beeinflussen und so Druck auf die Politik auszuüben. In der russischen Propaganda wird eine direkte Verbindung zwischen Waffenlieferungen und der angeblichen Eskalation durch den Westen sowie einem möglichen Atomkrieg geschaffen.
Das passt auch in das Narrativ des Kremls, dass Russland in der Ukraine eigentlich einen Stellvertreterkrieg gegen die USA und die Nato führt. Die Schuld tragen dann immer die anderen: Indem ihr handelt, der Ukraine Waffen liefert, eskaliert ihr; würdet ihr nichts tun, gäbe es auch keine atomare Kriegsgefahr. Dabei ist es die russische Führung, die eskaliert, sowohl militärisch als auch rhetorisch. Russland besitzt die Eskalationsdominanz und kann diesen Krieg jederzeit beenden.
Nicht in die Eskalationsrhetorik des Kremls ziehen lassen
Mit dieser Propaganda und Desinformation versucht die russische Führung die Diskurshoheit über den Krieg zu erlangen. Die ukrainische Seite reagiert darauf, indem Präsident Wolodymyr Selenskyj regelmäßig in Parlamenten westlicher Staaten auftritt, Videos produziert und mit seinen Narrativen erfolgreich die Interpretation bei uns beeinflusst. Damit hat er die Empathie auf seiner Seite.
Gleichzeitig scheinen wir mehr darüber zu wissen, wie viele russische Soldaten getötet worden sind oder wie viel russisches militärisches Material zerstört wurde, als dass wir Informationen über den Zustand der ukrainischen Armee haben. Die ukrainische Führung hat also erfolgreich das Narrativ über eine mögliche russische Niederlage beeinflusst. Jedoch ist dieser Krieg noch lange nicht entschieden – und wir wissen eben nicht, wie lange die Ukraine ihn noch durchhalten kann.
Umso wichtiger ist es für die deutsche und europäische Politik zu kommunizieren, wie aktuelle Entwicklungen eingeschätzt werden und welche Perspektiven es in diesem Krieg gibt. Reaktive Politik, vor allem von Krisenmanagement geprägt, ist zu wenig. Deutsche Politik sollte sich nicht in die Eskalationsrhetorik des Kremls ziehen lassen. Politik, Medien, Expertinnen und Experten sollten den Diskurs zu Waffenlieferungen nicht linear mit einer möglichen Eskalation koppeln. Umgedreht ist auch die Annahme falsch, wenn Putin nicht weiter eskaliert, wie das von seiner Rede zum 9. Mai erwartet worden war, dass die russische Führung dann plötzlich ihre Strategie geändert hätte oder sich kompromissbereit zeigen würde.
Alle sollten weitaus stärker hinterfragen, ob die Aussagen führender russischer Politiker nicht Teil einer Manipulationskampagne sind und welches Narrativ sie transportieren. Sie bekommen durch die Polarisierung und Emotionalisierung in den (sozialen) Medien leicht eine größere Bedeutung, als sie tatsächlich haben: Je größer die Drohung und auch die Interpretation der Bedrohung ist, desto mehr Klicks, Leserinnen und Leser. Nicht aus jeder Äußerung russischer Politiker sollte also ein möglicher Atomschlag konstruiert werden. Wenn die russische Führung und ihre Medien wieder Panik schüren wollen, ist das beste Mittel: nicht alles glauben und einfach übernehmen, als wäre es die Wahrheit.
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