Aus dem Ruder gelaufen
In ihren Auslandseinsätzen soll die Bundeswehr Vorbild sein - manche Soldaten scheinen damit überfordert / Von Stephan Löwenstein
BERLIN, 25. Oktober. Wie es sein soll, steht im Weißbuch. Die Soldaten der "neuen Bundeswehr" seien "neben ihrer Funktion als Kämpfer auch Helfer, Schützer, Vermittler", heißt es da. "Intensive ethisch-moralische Bildung trägt nicht nur dazu bei, ein reflektiertes berufliches Selbstverständnis zu entwickeln, sondern fördert auch die Fähigkeit des Einzelnen, in moralisch schwierigen Situationen eigenverantwortlich zu handeln." Eine umfassende interkulturelle Bildung schärfe das Bewußtsein für die religiösen und kulturellen Besonderheiten in den jeweiligen Einsatzgebieten. "Damit fördert die Innere Führung die Einsatzbereitschaft der Soldaten und trägt zum Ansehen der Bundeswehr in den Einsatzgebieten bei."
So weit die Theorie. Ein Gegenbild aus der Praxis hat am Mittwoch die "Bild"-Zeitung geboten: "Schock-Fotos" von deutschen Soldaten, die sich in Afghanistan in makabren und auch obszönen Posen mit einem Totenschädel zeigten. Die Bilder stammen angeblich aus dem Frühjahr 2003. Ihre Veröffentlichung hätte zu kaum einem sensibleren Zeitpunkt stattfinden können. Just am Mittwoch fand symbolträchtig im Bendlerblock, dem Berliner Amtssitz des Verteidigungsministers, die Sitzung des Bundeskabinetts statt, in der besagtes Weißbuch zur Sicherheitspolitik beschlossen wurde. Der Auftritt Franz Josef Jungs, dem CDU-Generalsekretär Pofalla eilig zu seinem persönlichen Erfolg gratulierte, war von der Wirkung dieser Bilder überschattet. Noch vor dem Beginn der Tagesordnung machte Bundeskanzlerin Angela Merkel nach Auskunft ihres Sprechers deutlich, der Vorfall sei "schockierend und abscheulich" und erfordere eine "gerade und unmißverständliche Reaktion".
Doch auch jenseits dieses Tageseffekts kommt die Veröffentlichung zu einem Zeitpunkt, da die Auslandseinsätze der Bundeswehr im allgemeinen und der in Afghanistan immer mehr in die Kritik geraten. Die Sicherheitslage verschärft sich zusehends auch im immer noch verhältnismäßig ruhigen Norden, wo die Bundeswehr ihren Einsatzschwerpunkt hat. Ein Ende des Einsatzes ist nicht in Sicht. Zugleich verstärken die Bilder den Eindruck, den die Mißhandlungsvorwürfe des ehemaligen Guantánamo-Häftlings Murat Kurnaz hervorgerufen haben: Die Soldaten liefen im Auslandseinsatz aus dem Ruder.
Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan versuchte deshalb gegenzusteuern. Man müsse die Vergehen dieser Einzelpersonen in Relation zu dem untadeligen Verhalten der vielen tausend anderen sehen, die im Einsatz sind: Annähernd zehntausend Bundeswehrsoldaten sind das zur Zeit, und mehr als 200 000 waren es insgesamt seit den neunziger Jahren. "Wenn man das in einen Zusammenhang setzt, relativiert sich das." Mit solchen Fehlleistungen müsse man "vernünftig umgehen". Die Belastung der Soldaten sei seit 1995 "unvergleichlich" mit der Zeit zuvor. Darauf werde in der Ausbildung reagiert, "und wir steuern auch nach".
In der Tat wird jeder Soldat vor einem Auslandseinsatz in der Heimat intensiv darauf vorbereitet, und die Bundeswehr hält sich zugute, daß das weit über das Einüben militärischer Fähigkeiten hinausgehe. Informationen über die Bevölkerung, Geschichte und Kultur des jeweiligen Einsatzlandes gehören ebenso dazu wie das Üben, wie man sich in Krisensituationen zu verhalten habe. Ziel sei es, die konkreten Einsatzbedingungen und die daraus folgenden Verhaltensweisen realitätsnah zu vermitteln, heißt es auf einer Informationsseite. An den Einsatz schließt sich eine Nachbereitung an. Dazu gehört auch ein Seminar, das dazu dient, die Eindrücke aus dem Einsatz zu verarbeiten und diesen innerlich abzuschließen.
Die Ausbildung für eine Auslandsverwendung besteht aus drei Abschnitten. In einer einwöchigen Grundlagenausbildung wird Theorieunterricht über Recht, Verhaltensrichtlinien und die Einsatzregeln (Rules of Engagement) erteilt. Praktisch werden Sanitätswesen, Selbstschutz (Bergen, Retten, Löschen), ABC- und Funkausbildung gedrillt und Situationen, die im Einsatz vorkommen können, einstudiert: der Schutz eines Feldlagers, das Verhalten als Wache und Streife, die Kontrolle und Durchsuchung von Personen und Fahrzeugen, Erkennen, Melden und Markieren von Minen und dergleichen. Der zweite Schritt ist eine zweiwöchige "einsatzspezifische Grundlagenausbildung", in der diese Übungen auf die Lage im Einsatzland hin bezogen werden und Theorieunterricht etwa über den Umgang mit Stress erteilt wird.
Schließlich werden die Soldaten in die sogenannte zentrale Truppenausbildung geschickt. Im Gefechtsübungszentrum des Heeres auf dem Truppenübungsplatz Altmark oder am Ausbildungszentrum der Bundeswehr im fränkischen Hammelburg kommen sowohl Technik als auch Laiendarsteller zum Einsatz, um die Soldaten mit Szenarien ihres Einsatzgebietes zu konfrontieren. Das ist etwa das Verhalten gegenüber einer aufgebrachten Menschenmenge, das Retten von Verwundeten, die Anwendung der Einsatzregeln in einem Ausbildungsparcours und das Verhalten unter Stress und bei Geiselhaft.
Die letztgenannte Ausbildung findet unter ärztlicher und psychologischer Aufsicht statt und kann vom Soldaten jederzeit abgebrochen werden. Sie darf nur in diesen Ausbildungszentren erteilt werden - eine Lehre, die man aus Vorfällen unsachgemäßer Abwandlungen gezogen hatte, die aber konsequent erst durchgesetzt wurde, als die Vorfälle von "Coesfeld" publik wurden. Da hatten Soldaten, die keineswegs speziell dafür geschult waren, auf eigene Faust "Geiselhaft" geübt. Der damalige Minister Struck (SPD) polterte, es dürfe nicht sein, daß jemand glaube, "Hindukusch" in der Heimat spielen zu müssen.
Schlüsselpersonen und Multiplikatoren, also vor allem die Kommandeure, werden überdies am Zentrum Innere Führung geschult. "Innere Führung ist unsere Unternehmensphilosophie, die Corporate Identity der Bundeswehr", sagt Brigadegeneral Alois Bach. Er leitet seit Juni die Dienststelle in Koblenz, die sein Vorgänger als "moderne Stätte der Erwachsenenbildung für Soldatinnen und Soldaten" bezeichnete. Haben die Auslandseinsätze die Mentalität der Truppe seit Mitte der neunziger Jahre verändert, drohen da Schranken zu fallen, die in der "zivilen" Umgebung in Deutschland bestehen? Bach sagt vorsichtig, er halte das für möglich. Doch hält er einen anderen Faktor für stärker: Die Veränderung der hiesigen Gesellschaft, wie sie sich in den Medien widerspiegle.
Da gebe es eben "mehr Gewalt, mehr Sex, mehr Voyeurismus". "Die Phänomene der Gesellschaft finden Sie auch bei uns", sagt der General. "Wenn Sie noch so gut ausbilden und Dienstaufsicht machen, wird es immer wieder zu Fehlverhalten einzelner kommen." Um dagegen vorzugehen, sei zweierlei notwendig. Zum einen müsse rigoros gegen Fehlverhalten vorgegangen werden, wie dies das Ministerium jetzt ja tue.
Zum anderen, um auch einen langfristigen Effekt zu erreichen, setzt er auf Einsicht durch Erziehung. Man müsse klarmachen, daß einzelne die gesamte Truppe gefährden: "Fehlverhalten nimmt Schutz weg." Außerdem gefährde es den Auftrag: "Die Werte, die wir anderen versuchen zu vermitteln, müssen wir selbst vorleben." Ein anderer Versuch, das Phänomen begreiflich zu machen, führt zum Militärseelsorger. Pfarrer Edwin Grötzner war in diesem Jahr mit der Truppe in Afghanistan. Auch er verweist auf die Einflüsse von außerhalb, "denen junge Leute so ausgesetzt sind". Finde nicht in manchen Talkshows weit Makabreres statt als diese Bilder?
Doch beschreibt er auch die besondere Situation im Auslandseinsatz. Niemals könne man "abschalten", immer sei man im Dienst. Manche führe das zum Trinken, andere suchten vielleicht ein anderes Ventil. Und die unmittelbare Bedrohung mit dem Tod - und zugleich das Bewußtsein, vielleicht töten zu müssen - führe womöglich auch zu Verdrängungsmechanismen. Schließlich war es ein Totenkopf, den die Soldaten einander in die Kamera hielten.
"Die Phänomene der Gesellschaft finden Sie auch bei uns." Brigadegeneral Alois Bach
Text: F.A.Z., 26.10.2006, Nr. 249 / Seite 3
MfG
kiiwii