Einfach sachlich und realistisch, nicht abgehoben: Stuttgart 21Grünen-Fraktionschef hält Ausstieg für möglichSamstag, 9. Oktober 2010 23:36 - Von Hannelore Crolly Winfried Kretschmann, Fraktionschef im Landtag, erklärt, warum das Ende von Stuttgart 21 gerade jetzt gut machbar wäre. Morgenpost Online: Herr Kretschmann, Sie haben Heiner Geißler als Schlichter für Stuttgart 21 ins Spiel gebracht. Ist er der Richtige in dieser verfahrenen Situation? Winfried Kretschmann: Heiner Geißler ist ein unabhängiger Kopf, über Parteigrenzen hinweg angesehen und erfahren als Schlichter. Außerdem kann er aufgrund seines Alters an so eine Sache gelassen herangehen. Das ist nach dem Schock durch den massiven Polizeieinsatz wichtig. Ich bin also zuversichtlich. Jetzt werden hoffentlich alle umstrittenen Fragen offen und ergebnisoffen diskutiert. Morgenpost Online: Ist das Chaos nach der übereilten Verkündung eines Baustopps nicht größer als zuvor? Winfried Kretschmann: Man kann doch nicht erwarten, dass man ohne Stolpern in so ein schwieriges Gelände kommt. Heiner Geißler ist Herr des Verfahrens und gibt den Ton vor. Wenn er seiner unbestritten schwierigen Aufgabe erfolgreich nachgehen soll, müssen beide Seiten seine bestimmende Rolle als Vermittler akzeptieren und Vertrauen und Entgegenkommen zeigen. Wir werden ihn konstruktiv unterstützen und von unserer Seite alles dafür tun, dass der Dialog zustande kommt. Morgenpost Online: Welche Fragen drängen besonders? Winfried Kretschmann: Vor allem, was Stuttgart 21 und die Neubaustrecke realistisch kosten. Wie Franz Josef Strauß so schön sagte: Man kann Generäle anschreien, aber Zahlen nicht. Die Bauherren mussten schon drastisch nach oben korrigieren. Trotzdem hat die Bahn für unser Gutachten, das elf statt wie bisher behauptet sieben Milliarden Euro Kosten für Stuttgart 21 und die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm kalkuliert, bisher nur Polemik übrig. Aber wenn Geld keine Rolle spielt, kommen Sie mit keinem Argument mehr durch. Morgenpost Online: Mehrere Gesprächsangebote wurden aber von den Gegnern ausgeschlagen, nicht von Bahn oder Regierung. Winfried Kretschmann: Ich habe selbst vor einigen Wochen gemeinsam mit Ministerpräsident Mappus versucht, einen runden Tisch zu installieren. Das Vorhaben scheiterte daran, dass Bahnchef Grube nicht bereit war, den Abrissbagger am Bahnhofsnordflügel auch nur fünf Tage anzuhalten. Die Sturheit der Bahn war eines der größten Hindernisse in dem ganzen Prozess. Morgenpost Online: War Ihnen mulmig angesichts des immer emotionaler werdenden Protests? Winfried Kretschmann: Ja, die Befürchtung war da, dass die Lage ohne vorläufigen Bau- und Vergabestopp eskaliert. Die Bilder vom Bahnhofsabriss haben eine explosive Mischung von Ohnmacht und Zorn erzeugt. Darum habe ich ja mit dem Ministerpräsidenten die Initiative ergriffen. Die Eskalation kam dann aber nicht durch die Demonstrierenden. Morgenpost Online: Schuld war allein die Polizei? Winfried Kretschmann: Nicht die einzelnen Polizisten, aber die Einsatzleitung und die Politik. Ich war selbst vor Ort. Es gab einzelne Übergriffe von Demonstrierenden, die wir verurteilen. Aber das waren ganz wenige, vereinzelte Personen. Der Protest war insgesamt friedlich, wie seit Monaten. Es war unverantwortlich vom Ministerpräsidenten, an einem Tag mit angemeldeter Schülerdemonstration diesen massiven Polizeieinsatz überhaupt zu starten. Morgenpost Online: CDU und FDP halten Ihnen vor, die Bürger nur wegen der bevorstehenden Landtagswahl mit illusorischen Versprechen aufzuwiegeln. Winfried Kretschmann: Völlig abwegig! Das hier ist ein ganz autonomer Bürgerprotest. Die Demonstrierenden sind keine fehlgeleiteten, verführten Menschen, sondern gut informiert. Sie wollen keine zehn Milliarden oder mehr sinnlos vergraben sehen. Und wenn wir so leicht eine Massenbewegung herbeimanipulieren könnten, hätten wir das längst getan. Wir kämpfen schon seit 15 Jahren gegen das Projekt. Morgenpost Online: Sie halten den Ausstieg tatsächlich für möglich? Winfried Kretschmann: Jetzt auf jeden Fall. Deswegen kämpfen wir für einen Bau- und Vergabestopp. Wie die Situation ohne Moratorium in sechs Monaten aussähe und ob es dann noch ein Zurück gäbe, können wir nicht vorhersagen, wie auch. Je mehr große Aufträge vergeben werden, desto schwieriger und teurer wird der Ausstieg. Morgenpost Online: Wie hoch wird die Schadenersatzforderung? Winfried Kretschmann: Es gibt ganz unterschiedliche Schätzungen, von 400 Millionen bis jetzt sogar schon drei Milliarden Euro. Die Befürworter erhöhen derzeit zur Abschreckung die Ausstiegskosten willkürlich jede Woche in Milliardenschritten. Morgenpost Online: Welches Signal sendet ein Aus nach 15 Jahren Planung an Investoren? Winfried Kretschmann: Es ist wahrlich keine Tradition in Deutschland, dass jede Regierung das Gegenteil ihrer Vorgänger macht. Aber der innere Kern der Demokratie ist, dass wir immer wieder verändern und zu Alternativen umkehren können. Was Schwarz-Gelb von Beschlüssen hält, sehen wir am Aus für den bisherigen Atomausstiegskonsens. Wir halten den Kurs zwar für grundfalsch, aber möglich ist er, wenn der Bundesrat zustimmt. Morgenpost Online: Jüngsten Umfragen zufolge könnten Sie – die Grünen kommen auf 32 Prozent – mit der SPD regieren. Stoppt Grün-Rot das Projekt? Winfried Kretschmann: Zunächst einmal: Wir verwechseln Umfragen sechs Monate vor der Wahl nicht mit dem Wahlergebnis. Sollte es dazu kommen, stimmt die SPD entweder einem Ausstieg zu oder die neue Regierung leitet einen Volksentscheid ein. Morgenpost Online: In Baden-Württemberg protestieren Grüne auch gegen Pumpspeicheranlagen oder Überlandleitungen für Windstrom. Ist „dagegen sein“ zur Grundhaltung geworden? Winfried Kretschmann: Dass wir gegen solche Kraftwerke oder Netzleitungen sind, ist ein Märchen. Es gibt immer nachvollziehbare Bedenken vor Ort, wo Anlagen mit schweren Eingriffen in die Landschaft geplant sind. Wir sind keine Protestpartei mehr. Die Grünen sind heute eine gestaltende Kraft. Unsere Themen sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Dafür bekommen wir Zuspruch. Morgenpost Online: Warum treten Sie nicht für das Amt des Ministerpräsidenten an? Winfried Kretschmann: Ich bleibe auf dem Teppich, auch wenn der Teppich fliegt. Erst wenn die Umfragen bis vor der Wahl in dieser Höhe bleiben, werden wir uns darauf einstellen. Die heutigen Ergebnisse beflügeln uns, aber wir heben nicht ab. Morgenpost Online: Wie vorstellbar ist ein grüner Landesvater ausgerechnet im konservativen Baden-Württemberg? Winfried Kretschmann: Wenn es eine Götterdämmerung gibt, dann gibt es auch irgendwann eine CDU-Dämmerung. Hier wird immer von oben nach unten durchregiert. Das eben erzeugt derzeit ja diesen Widerstand. Der Politikstil, den die CDU repräsentiert, verliert an Zustimmung. ----------- Innenminsister Rech: "beim Schloss von Versailles habe man auch nicht nach den Kosten gefragt"
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