Heiner Geissler und die Kapitalismuskritik
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Von Heiner Geissler
„Das Kapital hat die Bevölkerung agglomeriert, die Produktionsmittel zentralisiert und das Eigentum in wenigen Händen konzentriert.“
„Die Arbeiter, die sich stückweise verkaufen müssen, sind eine Ware wie jeder andere Handelsartikel und daher gleichmäßig allen Wechselfällen der Konkurrenz, allen Schwankungen des Marktes ausgesetzt.“
(Karl Marx / Friedrich Engels, 1848, „Manifest der Kommunistischen Partei“)
In Deutschland warten 156 Jahre später – als ob es nie eine Zivilisierung des Klassenkampfes gegeben hätte – Zehntausende von Arbeitern auf den nächsten Schlag aus den Konzernetagen von General Motors, Aventis, Volkswagen und Continental, der sie in die Arbeitslosigkeit und anschließend mit Hilfe der Politik auf die unterste Sprosse der sozialen Stufenleiter befördert.
Nicht das Gespenst des Kommunismus, vielmehr die Angst geht um in Europa – gepaart mit Wut, Abscheu und tiefem Misstrauen gegenüber den politischen, ökonomischen und wissenschaftlichen Eliten, die ähnlich den Verantwortlichen in der Zeit des Übergangs vom Feudalismus in die Industriegesellschaft offensichtlich unfähig sind, die unausweichliche Globalisierung human zu gestalten.
Unter Berufung auf angebliche Gesetze des Marktes reden sie vielmehr einer anarchischen Wirtschaftsordnung, die über Leichen geht, das Wort. 100 Millionen von Arbeitslosigkeit bedrohte Menschen in Europa und den USA und drei Milliarden Arme, die zusammen ein geringeres Einkommen haben als die 400 reichsten Familien der Erde, klagen an: die Adepten einer Shareholder-Value-Ökonomie, die keine Werte kennt jenseits von Angebot und Nachfrage, Spekulanten begünstigt und langfristige Investoren behindert. Sie klagen an: die Staatsmänner des Westens, die sich von multinationalen Konzernen erpressen und gegeneinander ausspielen lassen. Sie klagen an: ein Meinungskartell von Ökonomieprofessoren und Publizisten, die meinen, die menschliche Gesellschaft müsse funktionieren wie Daimler Chrysler, und die sich beharrlich weigern, anzuerkennen, dass der Markt geordnet werden muss, auch global Regeln einzuhalten sind und Lohndumping die Qualität der Arbeit und der Produkte zerstört.
Arbeiter in den Industriestaaten und ihre Gewerkschaften, die angesichts der Massenarbeitslosigkeit mit dem Rücken zur Wand stehen, fühlen sich anonymen Mächten ausgeliefert, die von Menschen beherrscht werden, deren Gier nach Geld ihre Hirne zerfrisst. Die Menschen leben und arbeiten in einer globalisierten Ökonomie, die eine Welt der Anarchie ist – ohne Regeln, ohne soziale Übereinkünfte, eine Welt, in der Unternehmen, Großbanken und der ganze „private Sektor“ unreguliert agieren können. Die globalisierte Ökonomie ist auch eine Welt, in der Kriminelle und Drogendealer ungebunden arbeiten und Terroristen Teilhaber an einer gigantischen Finanzindustrie sind und so ihre mörderischen Anschläge finanzieren.
Wo bleibt der Aufschrei der SPD, der CDU, der Kirchen gegen ein Wirtschaftssystem, in dem große Konzerne gesunde kleinere Firmen wie Kadus im Südschwarzwald mit Inventar und Menschen aufkaufen, als wären es Sklavenschiffe aus dem 18. Jahrhundert, sie dann zum Zwecke der Marktbereinigung oder zur Steigerung der Kapitalrendite und des Börsenwertes dichtmachen und damit die wirtschaftliche Existenz von Tausenden mitsamt ihren Familien vernichten? Den Menschen zeigt sich die hässliche Fratze eines unsittlichen und auch ökonomisch falschen Kapitalismus, wenn der Börsenwert und die Managergehälter umso höher steigen, je mehr Menschen wegrationalisiert werden. Der gerechte, aber hilflose Zorn der Lohnempfänger richtet sich gegen die schamlose Bereicherung von Managern, deren „Verdienst“, wie sogar die FAZ schreibt, darin besteht, dass sie durch schwere Fehler Milliarden von Anlagevermögen vernichtet und Arbeitsplätze zerstört haben.
Das Triumphgeheul des Bundesverbandes der Deutschen Industrie über die Billiglohnkonkurrenz aus dem Osten noch in den Ohren, müssen marginalisierte und von der Marginalisierung bedrohte Menschen sich vom Establishment als Neonazis und Kommunisten beschimpfen lassen, wenn sie radikale Parteien wählen, weil es keine Opposition mehr gibt und sie sich mit einer großen Koalition konfrontiert sehen, die die Republik mit einem Metzgerladen verwechselt, in dem so tief ins soziale Fleisch geschnitten wird, dass das Blut nur so spritzt, anstatt durch Bürgerversicherung und Steuerfinanzierung die Löhne endlich von den Nebenkosten zu befreien. Nur Dummköpfe und Besserwisser können den Menschen weismachen wollen, man könne auf die Dauer Solidarität und Partnerschaft aufs Spiel setzen, ohne dafür irgendwann einen politischen Preis bezahlen zu müssen. Warum wird totgeschwiegen, dass es eine Alternative gibt zum jetzigen Wirtschaftssystem: eine internationale sozial-ökologische Marktwirtschaft mit geordnetem Wettbewerb?
Auch in einer globalen Wirtschaft sind Produktion und Service ohne Menschen nicht möglich. Neue Produktionsfaktoren wie Kreativität und Wissen sind hinzugekommen. Aber das Spannungsverhältnis zwischen Mensch und Kapital ist geblieben. Die Kommunisten wollten den Konflikt lösen, indem sie das Kapital eliminierten und die Kapitaleigner liquidierten. Bekanntlich sind sie daran gescheitert. Heute eliminiert das Kapital die Arbeit. Der Kapitalismus liegt derzeit genauso falsch wie einst der Kommunismus.
Der Tanz um das Goldene Kalb ist schon einmal schief gegangen.
Der Autor war von 1977-89 Generalsekretär der CDU. Diesen Beitrag hat Heiner Geißler für „Die Zeit“ geschrieben, in der heute der ungekürzte Artikel erscheint.
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Wir erleben derzeit tatsächlich den Trend, daß längst nicht mehr nur einfache Tätigkeiten, sondern in wachsendem Umfang hochwertige Arbeitsplätze ins Ausland verlagert werden. Das kann auch nicht verwundern, denn Osteuropa mit seinen durchaus gut qualifizierten Arbeitskräften liegt nun mal direkt vor unserer Haustür. Und auch China holt in atemberaubenden Tempo auf, was die Qualifizierung seiner Erwerbsbevölkerung angeht. Insoweit bin ich denn auch eher skeptisch, ob es uns mit Hilfe von Innovationen auf Dauer gelingt, das hohe Wohlstandsniveau in Deutschland zu halten. Denn was bringt es uns, wenn die Erfindungen zwar in Deutschland gemacht werden, die Umsetzung in Form konkreter, zunehmend auch anspruchsvoller Produkte aber im Ausland erfolgt?!
Außerdem sagt ein hohes Beschäftigungsniveau noch nichts über die Qualität bzw. die Dotierung der Stellen aus. Selbst wenn auch in Zukunft deutlich mehr als eine halbe Million Menschen in der deutschen Automobilindustrie beschäftigt sind, so werden sie für ihre Arbeit doch weniger Geld real bekommen als heute. Wohlstand und Kaufkraft gehen zurück. Der Vorstand von VW beispielsweise sieht die Notwendigkeit, die Löhne und Gehälter ihrer Beschäftigten hierzulande um knapp 30% zu senken, um den Standortnachteil der deutschen Werke gegenüber Osteuropa wettzumachen. Und wenn man dann in Deutschland dieses Lohnniveau erreicht hat, wird das VW-Management die eigenen Arbeiter in Polen zum Verzicht auffordern, schließlich haben die Kollegen in Deutschland ja in puncto Kosten deutlich aufgeholt. Hier droht eine Abwärtsspirale, die sich im Ergebnis sehr nachteilig auf den Absatz auswirken wird, was wiederum den Druck auf die Löhne erhöht.
Prof. Meinhard Miegl geht davon aus, daß die Einkommen in Deutschland in den nächsten 10 Jahren im Durchschnitt um 15-25% sinken werden. Kurz- bis mittelfristig, soviel ist mal sicher, werden auf die breite Masse der Bevölkerung schmerzhafte Einschnitte und damit ein Absinken des erreichten Wohlstandniveaus zukommen. Ob diese Roßkur langfristig dann wieder zu mehr Wachstum und Wohlstand für alle führt, wie die Neoliberalen behaupten, das muß sich erst noch zeigen.
J.R.
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die kritik von geissler ist eine gesellschaftskritik.
was ist das für eine gesellschaft ohne ethische und moralische werte?
einziger wert, profitmaximierung?
neoliberalismus als religion.
prima, vertrauen wir auf die humanistischen ideale des turbokapitalismus.
ich wünsche ein angenehmes erwachen...
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Zum einen haben wir ja faktisch keine Reallohnsteigerungen mehr seit einer Reihe von Jahren, eher Senkungen, zum anderen steigen die Löhne in diesen Ländern stark an; so ist bspw. die Slowakei mittlerweile bereits das teuerste "ex Ostblock"-Land geworden mit durchschnittlichen Stundenlöhnen von 7 € (vs. rd 30 € bei uns) und immenser Inflation.
Wir werden sicher noch viele Anpassungsjahre vor uns haben ohne Wohlstandssteigerungen. Aber mit Innovation, technischem Fortschritt und mit Mehrarbeit pro Kopf werden wir unser jetziges Niveau auf Sicht halten und so überleben können. Eine Abwärtsspirale kann so weitgehend vermieden werden.
Und - auch nicht zu vergessen: Es entstehen neue Märkte in den sich entwickelnden Ländern, auch das sollte nicht vernachlässigt werden.
Aber:
Zur Anpassung muss neben den Arbeitnehmern der freien Wirtschaft vor allem auch der öffentliche Sektor etwas beitragen; sein Anteil am BIP muß begrenzt werden, damit den produktiv Tätigen mehr vom Netto übrigbleibt.
Und er muß aufhören, ständig neue und die Wirtschaftsdynamik bremsende Belastungen, vor allem auch in Form neuer Vorschriften, einzuführen. Es gibt eben auch wichtige nicht-monetäre Standortfaktoren, die bei jeder Investitions-/Standort-Entscheidung eine Rolle spielen.
Allerdings kann eines nicht sein, nämlich daß die demnächst größte Volkswirtschaft der Welt, China, ungebremst die westlichen Märkte (auch zu Lasten der Versorgung des eigenen Heimatmarktes!) mit Produkten überfluten darf und dabei unsere gewachsenen Produktions-Strukturen schneller eliminiert werden, als neue Beschäftigungsmöglichkeiten entstehen. Dem muß wirklich etwas entgegengesetzt werden !
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Zur Dotierung möchte ich auch noch ein Wort verlieren. Hier tun sich Welten zwischen den Herstellern und Zulieferern auf. Die Einschnitte bei VW klingen hart, aber von welchem Niveau aus? Wenn ein Bandarbeiter inkl. Zulagen mehr als 3000 Euro für 32 Stunden Arbeit ohne jegl. Verantwortung bekommt, kann er wohl bis an sein Lebensende Nullrunden überstehen, ohne auch nur annähernd auf das Lohnniveau des Zuliefererarbeiters zu sinken. Hier wurde es schon lange Zeit, dass mal einer dazwischenfunkt.
In der Standard-SW-Entwicklung sehe ich auf den ersten Blick auch Schwierigkeiten. Das Know How ist mittlerweile weltweit verbreitet, und Logistikkosten praktisch nicht existent. Keine Ahnung, wie es da weitergeht. Hier wird aber vielleicht nur eine gewisse Marktübertreibung aus den letzten Jahren korrigiert, aber das will ich als Außenstehender nicht beurteilen.
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Aufregung um Gespräch in der JF
Reaktionen auf Bahr-Interview: Berichterstattung in Tageszeitungen und Fernsehen / Kritik von Politikern der SPD und der Grünen
Marcus Schmidt
Mit Ungläubigkeit und Unverständnis haben Politiker von SPD und Grünen auf das Interview von Egon Bahr mit der JUNGEN FREIHEIT (JF 46/04) reagiert. In der taz vom Montag bezeichnete Michael Müller, stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, das Interview von Bahr als eine „Dummheit“. Auch der SPD-Bundestagsabgeordnete Sebastian Edathy zeigte sich wenig begeistert: „Das ist unfaßbar“, machte er seinem Ärger im Berliner Tagesspiegel vom Sonntag Luft.
Mehr noch als das Gespräch nehmen es die Genossen dem verdienten Parteimann Bahr offensichtlich Übel, daß er die JF-Redakteure im Allerheiligsten der Sozialdemokratie, dem Berliner Willy-Brandt-Haus, empfangen hatte. Müller nennt es einen „großen Fehler“. Edathy geht noch weiter: Für ihn ist es „ein absolutes Unding“, daß Bahr der JUNGEN FREIHEIT Gastrecht gewährt hat. Während sich Edathy Rückendeckung beim SPD-Parteivorsitzenden Franz Müntefering und bei Generalsekretär Klaus Uwe Benneter holte, die Edathys Angaben im Tagesspiegel vom Dienstag zufolge das Interview ebenfalls mißbilligen, glaubt Müller an die Einsichtigkeit seines 82 Jahre alten Parteifreundes: „Er habe seinen Fehler inzwischen sicher selbst eingesehen“, wird Müller, der Bahr übrigens „weiterhin für einen anständige Mann“ hält, in der taz zitiert. Ähnlich scharfe Kritik wie von Edathy und Müller äußerte auch Omid Nouripour, Mitglied des Bundesvorstands der Grünen.
Schon die Überschrift des Artikels im sonntäglich Tagesspiegel verrät, was die Zeitung von der Gesprächsbereitschaft Bahrs hält: „Zu viel der Freiheit“, titelte das Blatt. „Er ist einer der großen, alten Männer der SPD und auch über die Partei hinaus hochgeachtet“, bringt der Autor des Artikels sein Unverständnis zum Ausdruck und behauptet, Bahr habe „teilweise verwirrende Antworten“ gegeben: So stößt er sich daran, daß Bahr im Gespräch mit der JF äußerte, der Kniefall Brandts in Warschau habe „deutsche Schuld bezeugt“, gleichzeitig aber feststellte: „Aber kein Volk kann dauernd kniend leben.“
Weniger verwirrend als vielmehr ärgerlich findet die Süddeutsche Zeitung vom Dienstag diese Passage: „Ein Satz, der sich schnell zu einer Losung der extremen Rechten umfunktionieren läßt.“ Auf derlei zweifelhafte inhaltliche Auseinandersetzungen mit dem Interview wird in der taz vom Montag gleich ganz verzichtet. In fast schon resignativen Ton stellt die Zeitung statt dessen fest: „Wieder einmal hat mit Egon Bahr ein renommierter Politiker der ‘Jungen Freiheit’ ein Interview gegeben.“
Egon Bahr zeigt sich unterdessen wenig beeindruckt von der Kritik an seiner Breitschaft, der JUNGEN FREIHEIT ein Interview zu geben. Das Gespräch halte er immer noch für „vertretbar“, zitiert ihn der Tagesspiegel. In einem Bericht in der 3Sat-Sendung „Kulturzeit“ am Dienstag, in dem die JF als „rechtskonservativ“ bezeichnet wurde, bekräftigte Bahr abermals seine Entscheidung. Er habe die Zeitung zuvor einige Monate gelesen und halte sie für ein intelligentes Blatt. Viel Lob fand der SPD-Veteran für die Behandlung des 20. Juli in der JUNGEN FREIHEIT. Er stellte heraus, daß auch die Sozialdemokraten unter den Verschwörern in der Berichterstattung der JF entsprechend gewürdigt worden seien. Bahr schloß seine Stellungnahme vor der Kamera mit der Feststellung, daß es für ihn in erster Linie darauf ankomme, was er in dem Interview gesagt habe.
servus
proxyI
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Die Arbeit von Professor Hengsbach
Der gläubige Katholik Friedhelm Hengsbach ist ein erklärter Gegner der zur Zeit laufenden Sozialreformen. In einem Interview mit dem Stern-Magazin sprach er deutliche Worte über die Fehlentwicklung der momentanen Reformeuphorie der politischen Kräfte. Der Professor, für den Solidarität und soziales Verhalten christliche Werte und gleichzeitig gesellschaftliche Notwendigkeit sind, artikuliert seine Ablehnung der Einschnitte in das Sozialgefüge sehr deutlich.
http://www.flegel-g.de/hengsbach_fundam.html
Kritik des wirtschaftlichen Fundamentalismus
Im März 2003 publizierte er eine seine scharfe Kritik über, wie er es nannte, marktradikale Bekenntnisse und wirtschaftlichen Fundamentalismus.
Er bezieht sich dabei auf auf Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme und auf Friedrich A. Hayeks Konzept spontaner Ordnung als Deutungsmuster der Wirtschaftsgesellschaft und setzt sich mit den Theorien der ökonomischen Funktionsregeln von Angebot und Nachfrage auseinander.
Er verweist in seiner Analyse darauf, dass einseitige Betrachtungsweisen oder die Ausblendung bestimmter Sichtweisen zwangsläufig zu Fehldiagnosen führt und zieht als Beispiel die Arbeitslosigkeit und die politische Reaktion darauf heran.
Er kritisiert, dass betriebswirtschaftliches Denken mehr und mehr die volkswirtschaftliche Betrachtung verdrängt mit der Folge, dass Unternehmen, deren Blick zwangsläufig mehr auf betriebs- als auf volkswirtschaftliche Interessen gerichtet ist, stagnative Tendenzen nicht den marktpolitischen Anforderungen, sondern den arbeitspolitischen Rahmenbedingungen zuordnen.
Weiterhin kritisiert er die Fehleinschätzungen bezüglich des Generationenkonflikts, beleuchtet die Fiskalpolitik der EU mit den unterschiedlichen Inflationswerten der Kern- und der Randländer und wirft einen Blick auf die Gefahren der unterschiedlichen Marktsichtweisen der USA und Europas.
Die Anpassung der Bischöfe an den Zeitgeist (Norbert Blüm)
http://www.steuerini.at/dieanpassungderbischoefe.htm
Doppelter Cäsarenwahn. Die Kanzleragenda - ein Fortschrittsweg ohne Alternative. (Friedhelm Hengsbach)
http://www.lebenshaus-alb.de/mt/archives/001830.html
"Schröder will den Starken gefallen, deshalb tritt er kräftig nach unten!" (Friedhelm Hengsbach)
http://www.stern.de/wirtschaft/unternehmen/...html?id=515796&nv=ct_cb
Die Agenda ist ein Reformspektakel (Friedhelm Hengsbach)
http://jungle-world.com/seiten/2004/07/2563.php
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#84 aus dem werbelink
Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik
MEMORANDUM 2004
Beschäftigung, Solidarität und Gerechtigkeit –
Reform statt Gegenreform
http://www.memo.uni-bremen.de/docs/memo04ku.pdf
Heiner Flassbeck: Beliebigkeit als Prinzip 37
Beliebigkeit als Prinzip
Ein Kommentar von Heiner Flassbeck
http://www.memo.uni-bremen.de/docs/m1004.pdf
Norbert Reuter
„Antizyklische Fiskalpolitik“ und „deficit spending“ als Kern des
Keynesianismus?
Eine „schier unausrottbare Fehlinterpretation“
http://www.memo.uni-bremen.de/docs/m6504.pdf
Prof. Dr. Rudolf Hickel
Die Republik im Steuersenkungsrausch:
Sehnsüchte, Irrtümer und verarmender Staat
http://www.memo.uni-bremen.de/docs/m0804.pdf
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Wann hat ein einzelner "Fachmann" schonmal den Stein der Weißen für sich in Anspruch genommen (tut praktisch jeder) UND dies wurde von aller Welt als unbestrittene "Wahrheit" anerkannt. Zehn Fachleute - 20 Meinungen ...
Die Fähigkeiten eines Politikers liegen eher darin, Sachverstand zu organisieren, zu kommunizieren und letztlich einen Entscheidungsprozess zu einem Ende zu führen.Den meisten dieser Fähigkeiten liegen eher Talent, Lebenserfahrung und Charaktereigenschaften zu Grunde als eine spezielle Berufsausbildung.
Insofern erübrigen sich alle (vermeintlich herabsetzenden) Hinweise auf die jeweilige berufliche Herkunft eines Politikers. Nichtsdestotrotz wäre es sicher besser, die Zusammensetzung der Parlamente wäre etwas repräsentativer. Der Überhang an Beamten und Juristen ist mir auch etwas suspekt - weniger wegen der Qualifikation, als vielnmehr wegen der Mentalität.
Gruß BarCode
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Die marktradikalen Bekenntnisse sind bodenlos - Kritik des wirtschaftlichen
Fundamentalismus
Friedhelm Hengsbach SJ., Frankfurt am Main
In den Vereinigten Staaten streiten bekennende Christen darüber, ob die Evolutionstheorie Darwins der biblischen Schöpfungslehre widerspreche und folglich aus den Lehrbüchern der Schulen entfernt werden solle. Ich verstehe unter "Fundamentalismus" das Bekenntnis zu absoluten Wahrheiten, die unmittelbar auf religiöse Einsichten oder überirdische Offenbarungen zurückgeführt werden.
"Wirtschaftlicher Fundamentalismus" im abgeleiteten Sinn, in einer erkenntniskritischen Dimension läßt sich meiner Meinung nach erstens als naives Übersehen eines blinden Flecks in der Beobachtung wirtschaftlichen Handelns kennzeichnen, zweitens als absichtliches Ausblenden der Abhängigkeit des Erkennens wirtschaftlicher Prozesse oder Strukturen von der subjektiven Einstellung der Erkennenden, und drittens als idealtypische Konstruktion wirtschaftlichen Handelns losgelöst vom Boden alltagspraktischer Erfahrung. Im folgenden will ich Beispiele eines solchen wirtschaftlichen Fundamentalismus erläutern.
1. Der blinde Fleck
Der blinde Fleck steht im folgenden als Chiffre für das naive Nichtsehen gemeinsamer
moralischer Überzeugungen und des gesellschaftlichen Zusammenhangs, in den wirtschaftliches Handeln bzw. das System der Marktwirtschaft eingebettet sind. Beispielhaft wird auf Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme und auf Friedrich A. Hayeks Konzept spontaner Ordnung als Deutungsmuster der Wirtschaftsgesellschaft Bezug genommen.
(1) Soziales System und Spontane Ordnung
In der Theorie sozialer Systeme, die von Niklas Luhmann formuliert worden ist, wird das
marktwirtschaftliche System als selbstreferentiell-geschlossenes, autopoietisches Teilsystem einer funktional ausdifferenzierten modernen Gesellschaft abgebildet. Seine operative Einheit und alle Elemente erzeugt es aus sich selbst. Sein Funktionieren ist das Ergebnis einer abgelösten, geschlossenen Operation und wird weder auf psychische Subjekte noch auf kollektive Akteure als gesellschaftliche Einheiten zurückgeführt.
Sie wird durch die binäre Codierung des Zahlens/Nichtzahlens geregelt und rückgekoppelt.
Da in modernen Gesellschaften ein Konsens über verbindliche Moralprogramme nicht mehr besteht, die Moral also keine gesellschaftliche Integration mehr leistet, sind funktional ausdifferenzierte Systeme moralisch indifferent, ihre Funktionscodes bleiben zumindest für den Normalfall moralfrei. Nur im Ausnahmefall wird eine moralische Kommunikation mit der binären Unterscheidung:
"Gut/Böse" hingenommen, und zwar unter dem Risiko, dass die funktionalen Teilsysteme in
einen Alarmzustand versetzt und in ihrem reibungslosen Ablauf gestört werden.
Eine zweite Spielart des blinden Flecks sehe ich im wirtschaftstheoretischen Denken Friedrich A. von Hayeks, der in den 80er Jahren als prominenter Wortführer der marktradikalen Ökonomen hervorgetreten ist. Er hält das der Marktwirtschaft zugefügte Adjektiv »sozial gerecht« für unsinnig und schädlich. Frühere, sozial engmaschige Gemeinschaften hätten wohl über religiös und moralisch begründete Überzeugungen einer inhaltlichen Gerechtigkeit und Solidarität verfügen können, die das eigene Handeln orientierten, einer gesellschaftlichen Verständigung zugänglich waren und die Mitglieder auf ein gemeinsames Ziel, etwa das
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Gemeinwohl oder altruistische Gesinnungen verpflichteten. Moderne Gesellschaften dagegen
sperren sich aus zwei Gründen gegen eine solche inhaltliche Verständigung über
Gerechtigkeitsvorstellungen. Denn zum einen schließt der systemische Charakter funktional ausdifferenzierter Gesellschaften aus, dass ein Akteur die Vernetzung seines beabsichtigten Handelns und der nicht beabsichtigten Handlungsfolgen mit dem Handeln anderer Akteure überschaut und beeinflusst; während strukturelle Veränderungen sich erst recht nicht vorhersagen bzw. bewusst lenken lassen, um bestimmte Ziele kollektiver Akteure zu realisieren.
Zum andern snd die Mitglieder moderner Gesellschaften nicht imstande, den Handlungsspielraum anderer Akteure einzuengen und sie für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren. Zwar unterwerfen sie sich bestimmten Regeln, die ihre Handlungszwecke zwar aufeinander abstimmen, ihre Handlungsfreiheit aber unangetastet lassen. Solche Regeln werden nicht bewusst und einvernehmlich konstruiert, sie resultieren vielmehr aus einem blinden evolutionären Prozess. So haben sich zwei moderne Regeln durchgesetzt, dass nämlich die Eigentumsrechte anderer zu achten und Verträge einzuhalten sind, und dass die Einhaltung dieser beiden Regeln, der Schutz des Eigentums und die Vertragstreue eingeklagt werden kann.
Gemäß diesen Verfahrensregeln kennzeichnet "Gerechtigkeit" ausschließlich den formalen Anspruch gesellschaftlicher Akteure, von der unrechtmäßigen Einschränkung ihrer Eigentums- und Vertragsrechte verschont zu bleiben. In der Kraft dieser formalen Gerechtigkeitsregeln hat sich heutzutage der Markt als Verfahren der Handlungskoordinierung durchgesetzt. Durch ihn wird eine "doppelt spontane Ordnung" sozialer Verhältnisse hervorgebracht und aufrecht erhalten, die zum einen das Handeln der Akteure steuert und deren unterschiedliche Erwartungen einander korrespondieren läßt, und die zum andern die Chancen aller Akteure erhöht, weit mehr als auf jede andere Weise über einen erheblichen Umfang begehrenswerter Güter zu verfügen, ohne dass sich die beteiligten Akteure über partikuläre Gerechtigkeitsziele verständigen müssten. Denn Märkte funktionieren bereits, wenn die Instrumente des Marktes, die Eigentums- und Vertragsrechte in Tauschbeziehungen respektiert werden.
Folglich hat eine freie Marktwirtschaft dann als sozial zu gelten, wenn die Anbieter um die kaufkräftige Nachfrage der Konsumenten konkurrieren, wenn ein funktionsfähiger Wettbewerb die Souveränität der Konsumenten in Kraft setzt und wenn eine dauerhafte Anbietermacht verhindert wird. Hayek beruft sich dabei auf eine Äußerung Ludwig Erhards, dass eine Marktwirtschaft nicht erst sozial gemacht werden müsse; sie sei es bereits von ihrem Ursprung her.
(2) Kohärenz von sozio-ökonomischer Analyse und ethischer Reflexion
Die von Max Weber ausgezeichnete Dualität zweier Welten, nämlich der Beschreibung von
Tatsachen und der Bewertung von Überzeugungen ist seit der neuzeitlichen Revolution des
Erkennens und Denkens eine unbestrittene Vorgehensweise und nicht hintergehbar. Damit
sind zum einen sowohl eine Prinzipienethik, aus der konkrete Handlungsorientierungen
deduktiv abgeleitet werden, als auch ein naives Übersehen des blinden Flecks bei der
Diagnose und Therapie gesellschaftlicher Verhältnisse desavouiert, während die Bezugnahme auf das real existierende individuelle wie kollektive Handeln sowohl in sozio-ökonomischen Analysen als auch in philosophisch-ethischen Reflexionen methodisch nahe liegt.
Zum andern ist damit jeder hegemoniale Anspruch einer ethischen Reflexion gegenüber der sozioökonomischen Analyse oder der sozio-ökonomischen Analyse gegenüber einer ethischen
Reflexion zurückgewiesen. Weder die sozio-ökonomische Analyse noch die ethische Reflexion darf mit imperialem Gestus daherkommen, um wie eine feindliche Besatzungsmacht die jeweils andere Vorgehensweise wie ein fremdes Territorium zu erobern. Für die ethische Reflexion bedeutet dies, dass sie ein reflexives Gleichgewicht zwischen den
Handlungssubjekten, der Handlungssituation und den Handlungsorientierungen rekonstruieren sollte. Und für die sozio-ökonomische Analyse bedeutet dies, dass sie vermeiden sollte, sich
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von der wirtschaftlichen Alltagswelt abzulösen. Für das Verhältnis beider Forschungsverfahren bedeutet dies, dass aus der Kohärenz spezifischer Analysen und Ethikentwürfe eine interdisziplinäre Architektur von analytischer Wahrheit und normativer Richtigkeit, von Situationsbeschreibung und Situationsanalyse, von Handlungs-zwecken individueller und kollektiver Akteure, von normativ auf geladenen Lebensentwürfen und Handlungsorientierungen sowie von eingeschlagenen Wegen, die zu den formulierten Zielen führen, entsteht.
Bei der Suche nach ökonomischen Analysen und ethischen Reflexionen, die sich als einander kohärent erweisen, bieten sich zwei paradigmatische Formen ethischer Argumentation an:
eine Ethik des guten Lebens und eine Ethik des Gerechten. Die real existierenden Menschen bilden ihre Identität meist in der kreativen Auslegung und Aneignung von Gewohnheiten der alltäglichen Lebenswelt. Auch das Bewusstsein verantwortlichen Handelns gewinnen sie durch die Übernahme normativer Handlungsorientierungen, die in einem sozio-kulturellen Milieu anerkannt sind. Derartige Orientierungen des guten Lebens werden aus miteinander ausgetauschten Erinnerungen und erzählten Geschichten geschöpft. Junge Menschen formen diese Orientierungen zu eigenen Lebensentwürfen um, nachdem sie im Lauf der Erziehung und sozialen Interaktion entdeckt haben, wie wertvoll diese für sie selbst sind.
Wir sind jedoch nicht nur Angehörige sozial-kultureller Milieus, die durch eine gemeinsame Sprache, Geschichte oder Kultur abgegrenzt werden. Gleichzeitig sind wir Mitglieder pluraler Gesellschaften, in denen Menschen aus unterschiedlichen weltanschaulichen Milieus und mit unterschiedlichen Überzeugungen leben und sich wechselseitig respektieren. Die ethische Reflexion identifiziert nun Angehörige begrenzter sozial-kultureller Milieus, die zugleich Mitglieder pluraler Gesellschaften sind, in zwei Dimensionen als moralische Subjekte:
In der ersten Dimension folgen sie Handlungsorientierungen des guten Lebens, in der zweiten Dimension unterstellen sie die Suche nach gesellschaftlich verbindlichen Normen dem "moralischen Gesichtspunkt" (the moral point of view), dass nämlich die Folgen und
Nebenwirkungen, die sich aus der allgemeinen Befolgung einer Norm für die Interessen eines jeden einzelnen ergeben, von allen Betroffenen zwanglos anerkannt werden können.
Der moralische Gesichtspunkt drückt die Perspektive der Unparteilichkeit und der Universalität aus, den doppelten Respekt vor dem andern als gleichberechtigtem Mitglied der Gesellschaft und als unvertretbar einzelnem. Die Kohärenz sozio-ökonomischer Analysen und ethischer Reflexionen ist erfahrungsgemäß durch gesellschaftliche bzw. politische Überzeugungen vermittelt. So kann der blinde Fleck einer systemischen Deutung der Gesellschaft durch eine handlungstheoretische Deutung relativiert werden.
Luhmann selbst verweist wiederholt auf die offene Flanke der wechselseitigen Durchdringung sozialer und psychischer Systeme und ihrer Operationsformen, nämlich Kommunikation und Bewußtsein hin, nennt ”Sinn” und ”Vertrauen” als übergreifende Operationsformen, die vorgeleistet werden, um die Risiken der doppelten Kontingenz zu überwinden.
Außerdem gesteht Luhmann dem Funktionssystem des Rechts einen fundamentalen Bestand an moralischer Kommunikation zu. Vermutlich ist die moralische Kommunikation auch in den übrigen Funktionssystemen vergleichsweise präsent und wirksam. Eine solche Vermutung wird durch das ordnungspolitische Denken in der Volkswirtschaftslehre und die unternehmensethische Diskussion in der Betriebswirtschaftslehre bestätigt.
Die ökologische Kommunikation konnte, bevor sie größere Teile der Gesellschaft erfasst hat, an die Fachdiskussion einer Minderheit von Naturwissenschaftlern und Geologen anknüpfen, während die Mehrheit der Experten zunächst dazu neigte, die Umweltrisiken des
herkömmlichen Wirtschaftens zu relativieren. Erst als deutlich wurde, dass staatliche
Entscheidungsträger für jene Folgeschäden verantwortlich gemacht wurden, die zwar
ursprünglich von Unternehmensleitungen und Wirtschaftsverbänden verursacht worden waren,
aber am Ende ganz bestimmte Bevölkerungsgruppen belasteten, traf die moralische
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Kommunikation über die Grenzen funktionaler Teilsysteme auf wachsende Resonanz und
wurde als berechtigt anerkannt.
Der blinde Fleck in Hayeks Sichtweise einer spontanen, evolutionär hervortretenden
marktwirtschaftlichen Ordnung, die auf die gesellschaftlichen Verhältnisse übergreift, kann mit dem Hinweis auf die gesellschaftliche Einbettung wirtschaftlichen Handelns relativiert werden.
Hayek selbst räumt ein, dass die verbindliche Garantie der Eigentums- bzw. Verfügungsrechte und der Vertragstreue durch die Gesellschaft bzw. durch den Staat und seine Sanktionsmacht erreicht wird, und dass sie nicht allein durch das Regelwerk von Angebot und Nachfrage auf den Märkten zustande kommen. Auch sein Plädoyer dafür, dass sich die gesellschaftlichen Vorstellungen beispielsweise über die Verteilungsgerechtigkeit dem Pareto-Kriterium einer optimalen Allokation verfügbarer Ressourcen beugen müssten, entspringt entweder seiner persönlich motivierten normativen Setzung oder einer gesellschaftlichen Verständigung darüber, dass der gesellschaftliche Maßstab der Verteilungsgerechtigkeit dem ökonomischen Effizienzkriterium folgen solle, so dass staatliche Umverteilungsmaßnahmen deshalb als unzulässig zu gelten hätten, weil sie unter dem Verdacht stehen, die als optimal geltende Marktverteilung zu unterlaufen.
In jedem Fall handelt es sich um eine normative Auszeichnung von Gerechtigkeitsgrundsätzen, die gesellschaftlich gelten sollen.
Der Dissens zwischen Hayeks Hypothese, dass moderne Verfahrensregeln der Gerechtigkeit ausschließlich durch den Markt definiert werden, und dem vorliegenden Versuch, den blinden Fleck dieser Hypothese ausfindig zu machen, besteht in der selektiven Auswahl Hayeks, der die Rechtsgarantie des Staates ausschließlich auf die Sicherung bürgerlicher Freiheitsrechte beschränkt.
Wenn jedoch von der Einbettung des marktwirtschaftlichen Regimes in gesellschaftliche Verhältnisse gesprochen wird, ist diese Vergesellschaftung des Marktes durch die sowohl rechts- als auch sozialstaatliche Verfassung vermittelt. Sie hat geschichtlich
bewirkt, dass die kapitalistische Marktwirtschaft durch die Proklamation der Menschenrechte gezähmt worden ist. Solange die geschichtliche Reihenfolge betrachtet wird, sind die Dimensionen der Menschenrechte von den freiheitlichen Abwehrrechten zu den sozialen Anspruchsrechten und zu den politischen Beteiligungsrechten erweitert worden. In einer logischen Rangfolge könnten auch die politischen Beteiligungsrechte als Kern rekonstruiert werden. Um sie herum würden die wirtschaftlich-sozialen Grundrechte als materielle Voraussetzungen positioniert, damit sie und die bürgerlichen Freiheitsrechte real eingelöst werden.
Wie sehr unbestrittene marktwirtschaftliche Schlüsselvariablen in gesellschaftliche
Vorentscheidungen eingebettet sind, läß sich an der Leitfigur der individuellen wirtschaftlichen Leistung ablesen, die in der aktuellen wirtschaftspolitischen Debatte eine tragende Rolle spielt.
Eine erste gesellschaftliche Vorentscheidung besteht darin, dass nur ein Teil der
gesellschaftlich nützlichen Arbeit markt- und erwerbswirtschaftlich organisiert wird, ein anderer Teil der privaten, unentgeltlichen Leistungserstellung überlassen bleibt. Die private Kindererziehung wird nicht als wirtschaftliche Leistung betrachtet, wohl aber die gleiche Tätigkeit in gesellschaftlich organisierten Kindergarten. Vergleichsweise wird die wirtschaftliche Leistung nicht durch die physische oder nervliche Anstrengung entlang eines Weges gemessen oder durch die Eignung, menschliche Bedürfnisse zu befriedigen, sondern ist in erster Linie von der kaufkräftigen Nachfrage abhängig. Ein Bauer in Kolumbien erbringt eine wirtschaftliche Leistung, wenn er Orchideen züchtigt und sie nach Europa transportiert, und nicht, wenn er Kartoffeln anbaut, um die Nahrungsmittelbedürfnisse seiner Nachbarn zu befriedigen. Wenn der Chefarzt eines Krankenhauses das zehnfache Einkommen einer Physiotherapeutin oder Krankenschwester verdient, hat dies mit berufsständischen Denkmustern und dem Machtgefälle einer patriarchalen Gesellschaft zu tun als mit den ökonomischen Funktionsregeln von Angebot und Nachfrage. In das Entgelt einer individuellen
Leistung gehen auch die gesellschaftlichen Vorleistungen ein, die der einzelne den Eltern und
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Erzieherinnen sowie dem öffentlichen Bildungs- und Gesundheitssystem verdankt.
Gesellschaftliche Machtverhältnisse, sexistische Rollenmuster und die Ausgangsverteilung der Einkommen und Vermögen erklären die Ungleichheit gesellschaftlicher Positionen plausibler als individuelle Differenzen wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und -bereitschaft.
Während einer Veranstaltung des Kirchentags in Mainz wurde das Verhältnis von
wirtschaftlichen Funktionsregeln und gesellschaftlichen Vorentscheidungen in einer Metapher veranschaulicht:
Der ehemalige Präsident der Deutschen Bundesbank und Mitbegründer der Initiative: ”Neue soziale Marktwirtschaft” behauptete, moralische Appelle oder parlamentarische Beschlüsse könnten ökonomische Gesetze ebenso wenig außer Kraft setzen, wie das Wasser den Berg hinauf fliesse. Dem entgegnete Bischof Franz Kamphaus, dass wohl auch für die moderne Wirtschaft jene Architektur des mittelalterliches Dorfplatzes gelte, die den Markt von der Kirche, dem Rathaus, dem Krankenhaus und der Schule (und dem Wirtshaus, ließe sich ergänzen) eingerahmt konstruiert hat. Ohne jene gesellschaftliche Institutionen hätte der Markt überhaupt nicht funktioniert. Der Bischof hat Recht, der Bundesbanker nicht.
2. Der Mikroblick
Als eine zweite Form des wirtschaftlichen Fundamentalismus wurde das absichtliche und
mutwillige Ausblenden der Abhängigkeit der Erkenntnis von der Perspektive des Erkennenden, die (inter)subjektiv vorentschieden wird, identifiziert. In den wirtschaftstheoretischen Analysen und -politischen Optionen erweisen sich unterschiedliche Perspektiven, beispielsweise die Angebot/Nachfrage-Beziehungen, die Input/Output-Rechnung, die Kosten/Nutzen-Analyse oder die Mikro/Makro-Ökonomik häufig als zwei Seiten einer Münze.
Nun ist die methodisch eingeschränkte Wahl eines Blickwinkels, die in der Absicht vorgenommen wird, dass sich der Gegenstand der Erkenntnis präziser erfassen lässt und schärfere Untersuchungsergebnisse gewonnen werden, nicht zu beanstanden. Durch ein solches Verfahren lassen sich in den meisten Fällen innovative Einsichten gewinnen. Wenn jedoch Forschungsresultate, die sich aus einer partikulären Fragestellung und einem eingeschränkten Blickwinkel ergeben, als hinreichende oder gar erschöpfende Antworten auf komplexe Problemfelder propagiert werden, ist dies methodisch nicht vertretbar. Denn sobald Ausschnitte der Beschreibung und Analyse für das Ganze der Wahrnehmung gehalten werden, während komplementäre Fragestellungen und Antworten gezielt ausgeblendet werden, entstehen riskante Fehldiagnosen.
So gehen schwerwiegende Fehldiagnosen der ökonomischen Theorie und der politischen Steuerung der letzten Jahre auf das Konto eines Mikroblicks, der die öffentliche
Diskussion in Deutschland bestimmt hat.
(1) Riskante Fehldiagnosen
Eine riskante Fehldiagnose der sozio-ökonomischen Krise in Deutschland seit Mitte der 70er Jahre besteht darin, die in drei bzw. vier großen Schüben verfestigte Massenarbeitslosigkeit durch individuelles Versagen zu erklären. Damit verkürzt sich der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit auf das Lamentieren über arbeitsunwillige Sozialhilfeempfänger und Geringqualifizierte. Folglich sieht man in der Absenkung des "Anspruchslohns", jenes Arbeitsentgelts, das ein Alleinverdienender benötigt, um sich, seine nicht erwerbstätige Ehefrau sowie zwei Kinder zu unterhalten und in einem städtischen Ballungsraum eine angemessene Wohnung zu mieten, die entscheidende Stellgröße.
Oder man erhofft sich von einer Kürzung der Regelsätze der Sozialhilfe arbeitsfähiger Personen bzw. der Absenkung des Arbeitslosengelds auf das Sozialhilfeniveau einen wirksamen Anreiz, damit Arbeitslose sich
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zügiger dem regulären Arbeitsmarkt zur Verfügung stellen. Nach großflächigen Erfahrungen
und den Untersuchungen der Sozialverbände scheint es das Millionenheer arbeitsfähiger, aber nicht arbeitswilliger Empfängerinnen oder Empfänger von Sozialhilfe nicht zu geben.
Die Hartz-Kommission drängt schwerpunktartig darauf, die Vermittlung von Arbeitslosen zu
beschleunigen und zu intensiveren. Ob dadurch das Niveau der zusätzlich angebotenen
Arbeitsplätze steigt, darf bezweifelt werden.
Eine individuelle Deutung der Massenarbeitslosigkeit liegt auch den massiven Bemühungen zur Qualifizierung zugrunde. Doch aus der Erkenntnis, dass gering Qualifizierte schneller und stärker von Arbeitslosigkeit betroffen sind, folgt nicht im Umkehrschluss, dass eine Höherqualifizierung das Beschäftigungsrisiko aufhebt.
Arbeitslose in den neuen Bundesländern sind meist nicht arbeitslos wegen mangelnder
Qualifizierung. Auch im Westen bewerben sich Ingenieure hundertfach, ohne einen
angemessenen Arbeitsplatz zu finden.
Eine weitere Fehldiagnose liegt in der beherrschenden Stellung der betriebswirtschaftlichen Lehre und Forschung, die den Rang der Volkswirtschaftslehre als Gesellschafts- und Staatswissenschaft in Deutschland weithin verdrängt hat.
So bestimmt die einzelwirtschaftliche Kalkulation, die dahin tendiert, gesamtwirtschaftliche und gesellschaftliche Folgewirkungen der unternehmerischen Gütererstellung systematisch auf unbeteiligte Dritte oder die Allgemeinheit abzuwälzen, die theoretische Analyse und die politische Beratung. Das betriebswirtschaftliche
Denken ist für die Manager eines Unternehmens, das nicht marktbestimmend ist, sondern sich den Bedingungen des Marktes anpassen muss, naheliegend.
In Zeiten der Rezession bzw. der Stagnation, die durch unternehmerische Strategien nicht wesentlich verändert werden können, wächst daraus die Neigung, in der öffentlichen Debatte brennpunktartig die Arbeitskosten, den Arbeitsmarkt und die Einrichtungen des Arbeitsmarktes zur erstrangigen Stellgröße der Krisenbewältigung zu deklarieren. Die Löhne seien zu hoch, die Lohnstruktur zu starr:
Der Kündigungsschutz entmutige kleine und mittlere Unternehmen, zusätzliche Arbeitskräfte einzustellen.
Die flächendeckenden Tarifverträge raubten den Höherverdienenden jene Leistungsanreize, die für das Wachstum eine entscheidende Rolle spielen.
Und die Tarifstruktur am unteren Rand, die die Funktion eines garantierten Mindestlohns erfüllt, würde die Unternehmen dazu treiben, die menschliche Arbeit durch Kapital zu ersetzen, und damit jenen Arbeitsuchenden die Beschäftigungschance rauben, deren Arbeitsproduktivität den Marktwert ihres Arbeitsprodukts nicht erreiche.
Die öffentlichen Vorwürfe richten sich über die individuellen Subjekte des Arbeitsangebots hinaus zusehends gegen die Bundesanstalt für Arbeit oder die Gewerkschaften als Prügelknaben einer verfehlten Beschäftigungspolitik. Aber starr erscheinen die flächendeckenden Tarifverträge nur dem, der die etwa 40 000 Tarifverträge nicht bemerkt, die jährlich abgeschlossen werden, oder die betrieblichen Öffnungsklauseln übersieht, die zunehmend Bestandteile von Tarifverträgen bilden.
Dass sich die privaten Unternehmen angesichts einer anhaltenden Stagnation der Binnennachfrage in eine pessimistische Stimmungslage hineinsteigern, mag verständlich
erscheinen.
Dennoch sind für die Mehrzahl der Unternehmen nicht die Lohnkosten, sondern der Markterfolg, die Marktnähe und die Gewinnaussichten die erstrangige Stellgröße ihrer
Entscheidungen.
Die einzelwirtschaftliche Fehldiagnose ist mittlerweile zum beherrschenden Deutungsmuster von Volkswirtschaften, Nationalstaaten, Bundesländern und Kommunen und schließlich aller gesellschaftlicher Einrichtungen (einschließlich der Kirchen) geworden.
Begrifflich lässt sie sich unter die Chiffre der ”Staatenkonkurrenz” fassen, die eher eine Metapher als ein Hypothese darstellt.
Meist spitzt sich die Argumentation auf die zu hohen Lohnkosten, Lohnnebenkosten, Steuern und Abgaben zu, die die lokale, regionale bzw. nationale Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft ruinieren. Nationalstaaten, Länder und Kommunen konkurrieren, so wird behauptet, um die Standortentscheidungen grenzüberschreitend operierender Unternehmen. Diese würden den Nutzen der öffentlichen Infrastruktur mit der Belastung des Unternehmens durch öffentliche Abgaben und staatliche Steuern vergleichen. Bei näherer Betrachtung jedoch
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belegt die Metapher der Staatenkonkurrenz die durch den Mikroblick ausgelöste
Fehldiagnose.
Denn erstens sind die Akteure der Konkurrenz nicht Staaten, sondern nichtstaatliche Unternehmen, die zum einen um die kaufkräftige Nachfrage der Konsumenten vorwiegend in reifen Industrieländern konkurrieren, denen sie innovative Güter bereitstellen, und die zum andern um qualifizierte Arbeitskräfte konkurrieren, denen sie attraktive Einkommen anbieten.
Falls Lohnkosten, Abgaben und Steuern eine beherrschende Rolle spielen, müßten sie zweitens bei einem authentischen Vergleich mit der erzielten Arbeitsproduktivität in Beziehung gesetzt werden.
Drittens sind die Entscheidungsregeln der genannten Unternehmen vorrangig von Marktverhältnissen und Gewinnerwartungen beeinflusst und erst nachrangig von Steuern, Abgaben, Wechselkursveränderungen und realen Zinsdifferenzen.
Die Metapher einer Konkurrenz etwa zwischen Deutschland und den USA wie zwischen VW und General Motors ist viertens unzutreffend, weil die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Unternehmens an wenigen Kennziffern der Bilanz oder der Gewinn- und Verlustrechnung abgelesen werden kann, die vergleichbare Kennziffer eines Leistungsbilanzüberschusses etwa eines Landes oder einer Region mit einem ausgedehnten
Binnenmarkt jedoch wenig aussagefähig ist.
Eine höhere Produktivität oder ein Anstieg des kaufkraftorientierten Volkseinkommens sind zweifellos plausible Indikatoren wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit, solange die Rückkopplung in Form von Wechselkursanpassungen und veränderten realen Austauschverhältnissen ausbleibt. Um den Erklärungswert einer unterstellten Hypothese der Lohn-, Steuer- und Abgabenkonkurrenz der Staaten zu erhöhen und den Verdacht einer Fehldiagnose auszuräumen, müßte sie wohl erst in ein komplexes und deshalb plausibles System gesamtwirtschaftlicher Regelung und Rückkopplung integriert werden.
Eine neuere Form der durch den Mikroblick ausgelösten Fehldiagnose ist unter dem Titel der ”Generationenbilanz” (General Account) aufgetreten. Dieses Konzept könne, so heißt es, die langfristigen Umverteilungen zwischen den Generationen, die sich aus den aktuellen steuerund abgabenpolitischen Entscheidungen ergeben, identifizieren und belegen, dass die derzeitigen steuer- und sozialpolitischen Entscheidungen in Deutschland die kommenden Generationen im Vergleich zur lebenden Generation übermäßig belasten.
Der Beleg wird angeblich dadurch erbracht, dass die Steuern und Abgaben an den Staat sowie die Transferleistungen des Staates einzelnen Altersjahrgängen der Bevölkerung zugeordnet werden - und zwar mit Hilfe von Generationenkonten, die für jeden noch lebenden Geburtsjahrgang geschlechtsspezifisch berechnet werden. Soweit diese Konten individuell zurechenbar sind, läßt sich für den einzelnen Angehörigen einer Altersklasse der Barwert aller über die Restlebenszeit zu erwartenden Zahlungen ermitteln. Der darin angezeigte positive oder negative Belastungssaldo gestattet einen Vergleich der steuer- und abgabenbedingten Nettobelastung der unterschiedlichen Altersklassen und folglich der lebenden und der kommenden Generationen.
Um den Lebenszeitsteuersatz verschiedener Altersklassen und folglich der lebenden und der kommenden Generationen miteinander vergleichbar zu machen, werden die individuelle fiskalische Nettobelastung und das zu erwartende Bruttoeinkommen pro Kopf auf den gegenwärtigen Zeitpunkt bezogen. Weiterhin wird nachgewiesen, dass die Aufsummierung der Generationenkonten aller lebenden und kommenden Generationen nicht ausreicht, um die entstandenen Staatsschulden zu bedienen, dass also ein negativer Finanzierungssaldo, eine sogenannte Tragfähigkeitslücke bestehen bleibt.
In dieser fiskalischen Tragfähigkeitslücke wird eine Verletzung der Gerechtigkeit hinsichtlich kommender Generationen gesehen. Sie ließe sich schließen, indem die Einnahmen des Staates erhöht oder dessen Ausgaben gesenkt werden. Nun riskiert das Verfahren der Generationenbilanz infolge des Mikroblicks eine Fehldiagnose des Generationenvertrags und der Staatsverschuldung.
Die Haupteinwände richten sich darauf, dass weder mit Konjunkturschwankungen noch mit den Wirkungen einer stabilisierenden Finanzpolitik gerechnet wird, dass die Muster der Zahlungsströme des Basisjahres unverändert in die Zukunft fortgeschrieben werden, dass die Wachstumsrate der Produktivität und der
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Diskontierungsfaktor konstant bleiben, dass die Wirtschaftssubjekte über die langfristigen Zahlungsströme wohlinformiert sind und dass sie ihre Entscheidungen treffen, ohne Vererbungsvorgänge zu berücksichtigen.
Die ”intertemporale Budgetrestriktion", die darin besteht, dass der Barwert aller staatlichen Einnahmen dem Barwert aller Ausgaben entsprechen soll, schreibt unterschwellig vorgegebene Verteilungsstrukturen zwischen öffentlichem und privatem Sektor fest. Der partikuläre, individualisierte Blick auf öffentliche Ausgaben und Einnahmen, die einzelnen Altersklassen und deren Angehörigen zurechenbar sind, übersieht makroökonomische Rückkopplungen mit ihren Auswirkungen insbesondere auf kommende Generationen. Der größere Teil der Staatsausgaben, der dazu dient, eine öffentliche Infrastruktur von Verkehrs-, Umwelt-, Bildungs- und Gesundheitsleistungen zum Nutzen kommender Generationen bereitstellen, ist nicht individuell zurechenbar, selbst wenn
auf der Einnahmenseite die überschaubare Inzidenz von Steuern und Abgaben einen vorwiegend individualisierten Mikroblick nahe legt.
Die so genannte Tragfähigkeitslücke muss nicht ausschließlich durch Steuern und Abgaben geschlossen werden. Einer kreislauftheoretisch orientierten Wachstums-, Beschäftigungs-, Geld- und Einkommenspolitik stehen zusätzliche Möglichkeiten zur Verfügung, das politische Szenario zu verändern.
Indem ein aktuelles Basisjahr gewählt wird und ausschließlich zukünftige Zahlungsströme
berücksichtigt werden, sind die fiskalischen Belastungen der bereits lebenden Generation
systematisch abgewertet, die der kommenden Generationen überbewertet.
(2) Die andere Seite der Münze
Es scheint ein Gebot der wissenschaftlichen Fairness zu sein, gegen die beherrschende
Meinung zahlreicher betriebswirtschaftlich kalkulierenden, auf den Mikroblick eingestellten, angebots-orientiert und monetaristisch trainierten Ökonomen, Journalisten, Sachverständigen, Kabinetts-kollegen und neuerdings auch Bundesbanksprecher auf andere Seiten wirtschaftstheoretischer Diagnose und wirtschaftspoltischer Option, beispielsweise einer monetären und realwirtschaft-lichen makroökonomischen Kreislaufanalyse hinzuweisen.
Dagegen ließe sich einwenden, dass lediglich ein Seitenwechsel stattfinde und eine
Perspektive gegen die andere ausgetauscht werde. Aber zum einen handelt es sich um
komplementäre Perspektiven. Sie relativieren und bestätigen sich. Darin liegt ein
Wahrnehmungs- und Erkenntnisgewinn, der verhindert, dass bloß die eine Perspektive in den Rang eines ausschließlichen Deutungsmusters erhoben wird.
Zum anderen gelten mikro- und makroökonomische Diagnosen nicht ohne weiteres als reziprok komplementär. Denn von einem Makroblick wird erwartet, dass er die Mikroperspektive einschließt; der Mikroblick dagegen steht nicht unter einem vergleichbaren Erwartungsdruck.
Deshalb kommt den beiden Perspektiven nicht ein völlig gleicher Erklärungswert oder Rang zu. Eine Mako-Analyse verweist an erster Stelle auf die quasi-säkulare Erfahrung der
Nachkriegszeit, die sich noch in den 80er und 90er Jahren bestätigt hat, dass nämlich der Arbeitsmarkt ein abgeleiteter Markt ist. Er taugt infolgedessen nur begrenzt als Schlüssel zur Erklärung der Massenarbeitslosigkeit. Er kommt in Bewegung, wenn sich auf den Gütermärkten vorher eine dynamische und anhaltende kaufkräftige Nachfrage entwickelt hat.
So hat sich die derzeitige Massenarbeitslosigkeit in mehreren Rezessionsschüben 1965/66,
1973/74, 1980/81 und 1992/93 aufgeschaukelt und verfestigt.
An zweiter Stelle ist die realwirtschaftliche und psychische Anfälligkeit der deutschen
Unternehmen gegenüber den Infektionen zu sehen, die von der US-Wirtschaft als dem
weltweiten Konjunktur- und Wachstumsmotor ausgehen. Seit Mitte der 90er Jahre übte die
"Neue Wirtschaft" unter den Deutschen eine beispiellose Faszination aus. Sie schien ein
technikbasiertes, von konjunkturellen Störungen freies stetiges Wachstum mit hoher
Beschäftigung zu garantieren. Steigende Aktienkurse beflügelten die Konsumneigung der
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Verbraucher sowie die Gewinnerwartungen und Investitionen der Unternehmen. Erst im
Nachhinein stellte sich der hohe spekulative Charakter jenes Technologie- und Aktienbooms heraus, der zusammen mit Bilanzfälschungen in eine gigantischen Fehllenkung von Kapital bzw. Vernichtung von privatem und öffentlichem Vermögen sowie in eine wirtschaftliche Rezession und gar Stagnation mündete.
An dritter Stelle ist anzuerkennen, dass die ausschließlich monetären und fiskalischen Konvergenz-Kriterien des Maastricht-Vertrages die europäischen Staaten in eine Beschäftigungsfalle treiben. Die Europäische Zentralbank schien bis unmittelbar vor der Gefahr eines Irak-Krieges entschlossen zu sein, jede Inflationsgefahr jenseits des "statistischen Rauschens" von 2% zu bekämpfen, ohne den Konflikt zwischen Geldwertstabilität und beschäftigungsfreundlichem Wachstum ausräumen zu können.
Eine rigide Geldpolitik riskiert nämlich, die Geldvermögenseigentümer zu begünstigen und Unternehmen, die reale Investitionen planen, zu entmutigen.
Während die EZB ihre restriktive Geldpolitik an der durchschnittlichen Inflationsrate der europäischen Länder orientiert und den Leitzinssatz nominal einheitlich festsetzt, ist nicht auszuschließen, dass die europäischen Nationalstaaten wirtschaftspoltische Ziele anstreben, die unterschiedliche Wachstums- und Inflationsraten zur Folge haben. Derzeit weisen einige Länder mit geringerer Wirtschaftskraft wie Irland und Portugal überdurchschnittliche, Länder mit höherer Wirtschaftskraft wie Frankreich und Deutschland dagegen unterdurchschnittliche Inflations- und Wachstumsraten auf.
Die Länder am Rand genießen die Wirkungen der goldenen Regel des Wachstums, gemäß der die Kapitalmarktzinsen unter den durchschnittlichen Gewinnerwartungen der Unternehmen, die sich an der erwarteten Wachstumsrate des Volkseinkommens orientieren, bleiben, die Kernländer jedoch nicht. Der Realzinsnachteil der Kernländer im Vergleich zum Realzinsvorteil der peripheren Euro-Länder kann die Stagnation am Rand einer Deflation, der Deutschland als extrem exportlastiges Land ausgesetzt ist, erklären.
Beschäftigungspolitische Chancen verspielen auch die EU-Grenzwerte der
öffentlichen Haushaltsdefizite und Verschuldung. Obwohl sie im Vertrag von Maastricht nicht verbindlich vorgeschrieben sind und zeitlich beschränkte Ausnahmen zulassen, interpretieren die Politiker sie derzeit extrem eng und verschärfen so die wirtschaftliche Rezession und den Anstieg der Arbeitslosigkeit. Da die privatkapitalistische Marktwirtschaft nicht in sich stabil ist, kann ein beschäftigungsfreundliches qualitatives Wachstum nur durch eine europäisch abgestimmte Geld-, Finanz- und Tarifpolitik erzielt werden. Und da in der Rezession eine Politik der Zinssenkung relativ wirkungslos bleibt, sind öffentliche Investitionen beispielsweise
der ökologischen Umsteuerung im Energie-, Verkehrs- und Agrarsektor als vorauseilender
Impuls privater Investitionen eine sinnvolle politische Entscheidung.
An vierter Stelle sollte der Blick von der Exportsteigerung als Motor des binnenwirtschaftlichen Wachstums umgelenkt und jener säkulare Trend beachtet werden, dem gemäß die reifen Industrieländer an einer Wendemarke stehen, wie die Agrargesellschaften sie beim Übergang zur Industriegesellschaft erlebt haben.
Damals waren 80% der Beschäftigten in der Landwirtschaft beschäftigt, heute sind es 2-4%. Damals mussten neun Bauern einen Nichtbauern miternähren, heute kann ein Bauer 82 Nichtbauern mitversorgen. Derzeit ist der Strukturwandel zur Dienstleistungswirtschaft in aller Munde.
Aber unter Dienstleistungen werden meist die industrie- oder unternehmensnahen Dienstleistungen verstanden, die in Banken und Versicherungen, bei Bahn und Post erledigt werden. Manche denken auch an einfache, niedrig entlohnte Dienste, die anzubieten derzeit in Deutschland noch als anmaßend, und die nachzufragen noch als entwürdigend empfunden wird.
Aber mehr noch ist an "personennahe Dienstleistungen" zu denken, an die Arbeit am Menschen. Die Arbeit am Menschen findet schwerpunktartig im medizinischen, pflegerischen, therapeutischen, pädagogischen und sozialen Sektor statt, als Helfen, Pflegen, Beraten und Begleiten, als kulturelles Schaffen. Sie wird nicht zu verschiedenen Zeitpunkten geleistet und verbraucht, sondern im selben Augenblick angeboten und nachgefragt, kann also nicht gespeichert werden. Für den Erfolg der Arbeit am Menschen ist die Kooperation zwischen Lehrenden und Lernenden, Ärzten und
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Patienten, Anwälten und Mandanten nötig. Arbeit am Menschen ist sprachlich vermittelte,
verständigungsorientierte Beziehungsarbeit, die auf Gegenseitigkeit beruht.
Im Dialog werden Handlungsorientierungen und Lebensentwürfe geändert, Menschen zu guten und richtigen Entscheidungen ermächtigt, psychosoziale, politische und moralische Lernprozesse angestoßen. Die Perspektive des konkreten Anderen, der Respekt vor dessen autonomer Lebenswelt sowie das Einfühlungsvermögen sind für die Arbeit am Menschen charakteristisch. Sie ist alles andere als einfache, niedrig entlohnte Beschäftigung für Langzeitarbeitslose mit geringer Qualifikation. Um sie zu leisten, braucht es eine hohe fachliche und soziale Kompetenz.
Arbeit am Menschen ist bisher noch und zu Recht vorwiegend öffentliche Arbeit.
Sie ist weithin den "Vertrauensgütern" zuzuordnen. Trotz der erwähnten Gegenseitigkeit
besteht zwischen denen, die sie anbieten, und denen, die sie in Anspruch nehmen, ein
ungleiches Verhältnis der Kompetenz. Da die Nachfragenden die Qualität der Arbeit am
Menschen, die sich über einen längeren Zeitraum erstreckt, nicht ganz und sofort
durchschauen können, sind sie darauf angewiesen, denen zu vertrauen, die diese Dienste
anbieten. Sie brauchen außerdem eine Verhandlungsposition, die sie der Marktmacht der
Anbieter beispielsweise von Gesundheits- und Bildungsgütern nicht ausliefert.
So gibt es bereits gute ökonomische Gründe dafür, Gesundheits- und Bildungsgüter öffentlich bereitzustellen. Darüber hinaus entspricht es dem Grundsatz demokratischer Beteiligung, sie als verfassungsfeste Grundrechte anzuerkennen. Was medizinisch notwendig ist, sowie eine Grundbildung, die reale Chancengleichheit verbürgt, sollte jeder Bürgerin und jedem Bürger unabhängig von ihrer Kaufkraft zugänglich sein. Deshalb sollte der Staat berechtigt sein, einen angemessenen Teil des Volkseinkommens zu beanspruchen und die Wirtschaftssubjekte nach ihrer Leistungsfähigkeit zu besteuern, um jene Ausgaben zu finanzieren, die für die Bereitstellung der Arbeit am Menschen wie der Bildungs- und Gesundheitsgüter notwendig sind.
3. Idealtypische Konstrukte
Theologischer Fundamentalismus läßt sich durch die Konstruktion einer Symbolwelt
charakterisieren, die scheinbar geschichtliche Tatsachen kreativ auslegt, tatsächlich aber zu einem idealtypischen, von der empirisch wahrnehmbaren Welt abgelösten Modell mutiert ist.
Ethischer Fundamentalismus zeichnet sich aus durch das Bekenntnis zu normativen
Grundsätzen, die axiomatisch und vorgängig zu aller Erfahrung formuliert sind und zur
Grundlage detaillierter Ableitungen und Argumentationsketten dienen. Die in diesem Abschnitt zu erläuternde Form des wirtschaftlichen Fundamentalismus ist sowohl die Konstruktion einer idealtypischen Modellwelt als auch das Bekenntnis zu normativen Grundsätzen, die losgelöst von der Erfahrung formuliert werden. Beispielhaft sollen die Funktionen der Börsen und Finanzmärkte, insbesondere deren segensreiche Wirkungen, wie sie in der legendären Verklärung der Lehrbücher begegnen, nacherzählt werden, um sie zu den real existierenden Finanzmärkten zu kontrastieren.
(1) Börsen und Finanzmärkte in legendärem Glanz
Die Funktion der Börsen in einer Marktwirtschaft wird meist so beschrieben: Sie bilden als Wertpapierbörsen oder Devisenbörsen neben den Kreditmärkten, Geldmärkten und
Rentenmärkten ein Segment der monetären Sphäre. Unter den Wertpapierbörsen haben die
Aktienbörsen als "Perlen des Kapitalmarkts" ein herausragende Stellung. Die Funktion der
Aktienbörsen besteht darin, Unternehmen optimal Kapital für rentable Investitionen
bereitzustellen und mit Liquidität auszustatten. Sie spielen eine unverzichtbare Rolle an den Grenzen der Selbstfinanzierung kleiner und mittlerer Unternehmen sowie an den Nahtstellen
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lokaler/regionaler und überregionaler Märkte, inländischer und ausländischer Engagements, oder der Einzelunternehmen und Gesellschaften.
Die Aktienbörsen kommen nach der Meinung von Experten dem Idealbild eines vollkommenen Markts nahe. Den Finanzmärkten werden in der idealtypischen Modellkonstruktion unter anderem folgende Funktionen zugeschrieben:
Sie liefern authentische Signale über das Leistungsvermögen sowohl von Unternehmen als auch Volkswirtschaften. Sie spiegeln die öffentlich zugänglichen Informationen über alternative Investitions- und Anlagemöglichkeiten.
Sie bewerten verschiedene Vermögensformen und ermöglichen damit den Anlegern, Finanztitel nach den eigenen Präferenzen zusammenzustellen; eine höhere Rendite können diese in der Regel dann erwarten, wenn sie bereit sind, ein höheres Risiko einzugehen.
Sie vermitteln Kapital zwischen Sparern und Investoren und steuern deren Entscheidungen, indem sie das Kapital in diejenige Verwendung lenken, aus der eine optimale Verzinsung zu erwarten ist. Den Unternehmen wird Kapital bereitgestellt, das diese für Investitionen benötigen. Finanzielle Risiken, die mit bestimmten wirtschaftlichen Aktivitäten verbunden sind, werden auf diejenigen verteilt, die sie am besten tragen können und wollen.
Globale Geld- und Kapitalmärkte finanzieren und sichern den weltweiten Handel. Sie gestatten den Zugriff auf das Kapital jenseits nationaler Grenzen und überwinden die Barriere, die den Investoren durch das heimische Sparvolumen markiert ist. Sie erzwingen einen dynamischen Wettbewerb zwischen weltweit operierenden Anlegern, Investoren und Banken sowie global einheitliche Realzinssätze.
Sie sind selbststeuernd und verkörpern eine entpolitisierte, ökonomische Effizienz. Der
Sprecher des Vorstands der Deutschen Bank gab vor einiger Zeit zu bedenken, dass die
Finanzmärkte die 5. Gewalt in der Demokratie seien, weil die täglich hunderttausendfachen Entscheidungen der Anleger nationale Regierungen wirksamer, als vierjährige Parlamentswahlen dazu imstande sind, disziplieren, damit diese sich zu einer vernünftigen Wirtschaftspolitik entschließen
(2) Real existierende Finanzmärkte
Dass ein Schatten der skizzierten idealtypischen Konstruktion auf die real existierenden
Börsen, Finanzmärkte und Finanzintermediäre fällt, ist unbestreitbar. Sie erfüllen auf nationaler und internationaler Ebene Aufgaben, die für die Wachstumsdynamik kapitalistischer Marktwirtschaften und den Wohlstand breiter Bevölkerungsschichten ohne Alternative sind.
Aber während der letzten 25 Jahre, seitdem das Bretton-Woods-Währungsregime
aufgekündigt wurde, lassen sich drastische Veränderungen und auch erhebliche
Funktionsdefizite feststellen, die für Wachstum und Beschäftigung, für menschliche und
soziale Entwicklung ein erhebliches Risiko darstellen.
So ist zum einen das Volumen der grenzüberschreitenden Finanzgeschäfte auf den Aktien-,
Renten-, Geld- und Devisenmärkten, der neu im Ausland errichteten Filialen von Großbanken und Versicherungen und insbesondere der abgeleiteten Finanzgeschäfte (Swaps, Futures, Optionen) in den letzten 25 Jahren explosionsartig gestiegen.
Zum andern ist das Gewicht der Kreditgeschäfte tendenziell geringer geworden, das der Wertpapiergeschäfte hat sich vergrößert. Die Preise für Aktien, langfristige Schuldtitel und Derivate sind weithin von subjektiven und kurzfristigen Erwartungen abhängig; langfristige Unternehmenspläne spielen eine nachrangige Rolle.
Der Handel mit Wertpapieren ist in den Vordergrund, die Erstausstattung von Unternehmen mit Kapital in den Hintergrund getreten. Kapital bleibt investierenden Unternehmen vorenthalten, indem es vorwiegend in der monetären Zirkulationflutet.
Die Finanzierung von Megafusionen spielt eine größere Rolle als der Börsenzugang kleiner und mittlerer Unternehmen. Die Kapitalgeber des so genannten Neuen Markts waren von visionären Selbstdarstellungen junger Unternehmer mehr beeindruckt als von
bilanzgestützten Erfolgsausweisen.
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Die real existierenden Finanzmärkte sind von Schieflagen wirtschaftlicher Macht beherrscht. Erstens sind die internationalen Finanzgeschäfte, vergleichbar dem grenzüberschreitenden Güterhandel und den ausländischen Direktinvestitionen, auf die weltwirtschaftlichen Kernländer konzentriert. Dazu bleibt das Gewicht der Netto-Finanzströme zwischen den Volkswirtschaften im Vergleich zu den binnenwirtschaftlichen Finanzierungsbeziehungen immer noch relativ gering, so dass die Investitionen und die Ersparnis sich nach wie vor weitgehend auf nationaler Ebene angleichen. Folglich sind die Entwicklungs- und Transformationsländer nur sehr begrenzt in die »globalen« Finanzmärkte integriert. Ihre Integration bleibt mit erheblichen Risiken der Investoren und vor allem der Bevölkerung jener Länder, die ausländisches Kapital aufnehmen, verbunden.
Zweitens haben marktbeherrschende Finanzunternehmen, nämlich Großbanken, Versicherungskonzerne und Investmentfonds aus den OECD-Staaten einen Informationsvorsprung gegenüber atomisierten Kleinaktionären. Die Chancen, bedeutsame Informationen zu gewinnen, weiterzuleiten und zu beeinflussen, sind asymmetrisch verteilt. Risikoeinstufungen, die vom Urteil und den Entscheidungen weniger Meinungsführer dominiert werden, sind anfällig für kollektive blinde Flecken,
Stimmungsumschwünge und Nachahmungsverhalten.
Gewichtiger noch ist drittens das Machtgefälle der hegemonialen Leit- oder Ankerwährungen gegenüber den nicht konvertierbaren Währungen. Die Notenbanken der Leitwährungsländer räumen dem Kampf gegen die Inflation eine hohe Priorität ein.
Die Länder mit abhängigen Währungen unterstellen sich diesem Regime und müssen Zinsaufschläge für das Abwertungsrisiko akzeptieren, sobald sie die Erwartungen der Ratingagenturen, deren Urteil über die Kreditwürdigkeit eines Unternehmens und eines Staates maßgebend ist, enttäuschen.
Manche Länder, die vermeiden wollen, dass ausländische Direktinvestoren abgeschreckt werden, flüchten in eine "Dollarisierung" oder "Euroisierung" ihrer Währung.
Die Folgen solcher Funktionsdefizite und Machtasymmetrien sind offenkundig: Krisen der
Auslandsverschuldung haben sich gehäuft. Euphorische Höhenflüge, spekulative Blasen und
plötzliche Kursstürze auf den Devisen- und Aktienmärkten gehören zur Erfahrungswelt der
90er Jahre. Währungs-, Finanz- und Bankenkrisen haben in Südostasien breite Bevölkerungsschichten in die Armut getrieben. Institutionelle Großanleger neigten zu riskanten Operationen, weil sie darauf vertrauen konnten, dass die Zentralbanken der Industrieländer sie nicht fallen lassen.
Die Verletzung der Domar-Regel seit Jahrzehnten hat eine schleichende Umverteilung
der Einkommen zugunsten der Geldvermögenseigentümer und zu Lasten der investierenden
Unternehmen verursacht. Die Vermutung, dass die monetäre Sphäre sich weithin von den
realwirtschaftlichen Kreisläufen abgelöst hat, klingt plausibel.
Die Operationen der marktbeherrschenden Großbanken, Versicherungskonzerne und
Investmentfonds auf den internationalen Finanzmärkten bilden ein Risiko für demokratische Lebensformen. Diese Vermutung soll durch drei Beispiele belegt werden.
Erstens: In Deutschland und in Kontinentaleuropa werden die Unternehmen überwiegend durch Banken und Kredite gesteuert; langfristige Investitionsentscheidungen sind von personellen und finanziellen Verflechtungen flankiert. Das US-amerikanische Finanzsystem dagegen kontrolliert die Unternehmen vorrangig über die Aktienmärkte und die Pensionsfonds. Es zwingt die Manager, ihre Entscheidungen in erster Linie an den Börsenkursen ihres Unternehmens zu orientieren und das Image des Unternehmens in kurzen Zeitabständen den professionellen Analysten zu präsentieren.
Zweitens: In Deutschland und in Kontinentaleuropa ist in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ein Unternehmenskonzept gewachsen, das einen Personenverband oder ein Vertragsnetz derjenigen darstellt, die sich im Unternehmen persönlich und finanziell engagieren, nämlich der Manager, Belegschaften, Anteilseigner, Banken, Kunden, Zulieferer und Kommunen. Auch dieses Konzept droht vom US-amerikanischen
Finanzregime, das stark durch die Aktienmärkte bestimmt ist, verdrängt zu werden.
Das Unternehmen wird ausschließlich als eine Vermögensmasse in den Händen der Anteilseigner gesehen. Diese können die Beteiligungsmehrheit erwerben und Manager einsetzen, die ihnen
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genehm sind, profitable Unternehmen entkernen und Restbetriebe samt ihren Belegschaften
abstoßen.
Drittens: Die umlagefinanzierten solidarischen Sicherungssysteme der Erwerbstätigen
in Deutschland und Kontinentaleuropa Europa werden tendenziell gegen Formen der
kapitalgedeckten privaten Vorsorge ausgewechselt, weil diese in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit, niedriger Investitionsneigung und geringer Wachstumsraten, aber relativ hoher Kapitalmarktzinsen für Eigentümer von Geldvermögen vorteilhafter sind.
Die so genannte Riester-Rente, die Vorschläge der Hartz-Kommission und die angekündigten Einschnitte in das Gesundheissystem sind nicht in erster Linie eine Reaktion auf die angeblichen Finanzierungsengpässe der Renten-, Arbeitslosen- und Krankenversicherung, sondern folgen der öffentlichen Propaganda, die Sicherung bisher soldarisch getragener Lebensrisiken zu individualisieren, zu privatisieren und zu kommerzialisieren.
Das naive Übersehen des blinden Flecks, die Dominanz des Mikroblicks und die
idealtypischen Konstrukte wurden als charakteristische Merkmale eines wirtschaftlichen
Fundamentalismus dargestellt.
Deren Folgen, nämlich selektive Wahrnehmungen, riskante Fehldiagnosen und normative Bekenntnisse jenseits der real existierenden Wirtschaft lassen sich korrigieren durch eine dreifache Konversion des Denkens und der Interessen - erstens zu empirisch gehaltvollen Analysen wirtschaftlichen Handelns, das zielorientiert und situationsgebunden ist, zweitens zu Analysen der Einbettung wirtschaftlicher Strukturen und Prozesse in gesellschaftliche Verhältnisse und Entscheidungsregeln kollektiver Akteure, drittens zu Reflexionen ethischer Grundsätze, die an situative Herausforderungen, an Lebensentwürfe kollektiver Akteure und verbindliche Normen pluraler Gesellschaften anschlußfähig sind.
Eine solche Kohärenz von wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und ethischer
Vernunft ist eine erstrebenswerte Alternative zum derzeit noch verbreiteten wirtschaftlichen Fundamentalismus.
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Soviel zu diesem Posting:
"Die Fähigkeiten eines Politikers liegen eher darin, Sachverstand zu organisieren, zu kommunizieren und letztlich einen Entscheidungsprozess zu einem Ende zu führen.Den meisten dieser Fähigkeiten liegen eher Talent, Lebenserfahrung und Charaktereigenschaften zu Grunde als eine spezielle Berufsausbildung."
Du solltest nicht immer so weichspülerisch abwiegeln.
(Gilt auch für Deine Äusserungen zum Islamismus)
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Friedrich Merz war auch als Jurist in der Lage, einen vernünftigen Vorschlag für eine Steuerreform zu präsentieren.
Auch Stoiber hat sein Jurastudium nicht geschadet - die Wirtschaftspolitik in Bayern unter seiner Federführung ist doch nicht schlecht, oder?
Also was soll das ewige Abheben auf die berufliche Ausbildung: Es gibt jede Menge ausgebildeter Lehrer, die schlechte Pädagogen sind - das könnten unter Umständen Laien mit Talent besser. Und so ist das in jedem Beruf.
Unfd wir hatten schon schlechtere Außenminister als Fischer - ausbildungsmäßig eine Katastrophe...
Gruß BarCode
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Und für so manche berufliche Tätigkeit geht ohne entsprechende Qualifikation nix.
Ein Arzt ohne Abschluß ist ein Scharlatan und macht sich strafbar.
Ein Lehrlingsausbilder braucht eine Ausbildereignungsprüfung.
Ein Transporteur von Sondermüll braucht einen entsprechenden Schein.
Ein Fußballtrainer braucht ne Lizenz.
Ein Autofahrer braucht nen Führerschein.
Nur ein Politiker braucht das alles offenbar nicht.
Der urteilt nach Lage der Dinge .. aus dem Bauch heraus ...
Die einzige Parallele, die mir dazu einfällt, ist der Laienprediger in der Kirche, der braucht auch keine theologische Ausbildung. Da reicht der Glaube und ein bißchen Redetalent.
(Und zu Fischer nur noch ein Wort: Wenn der sich morgen auf Capri zur Ruhe setzen und in die Sonne kucken würde, würde man sein Fehlen noch nicht mal bemerken. Und einen Haufen Geld sparen würde es uns auch noch)
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und der Exekutive bewegen sich im Bereich des Rechts.
Daher auch die Dominanz der Juristen, die sich auch
überblicksmäßig auf dem Gebiet der Wirtschaft ein-
arbeiten können, denn wer das 2.juristische
Staatsexamen absolviert hat, hat gelernt zu
lernen und sollte zudem delegieren können.
Aber einen Schmalspurjuristen bzw. Deutschlehrer
als Fachminister halte ich schon für abenteuerlich.
Was dabei herauskommt, erleben wir ja täglich im
Berlin-Chaos.
Daß Du wissenschaftliche Erkenntnisse als "heiße Luft"
abtust, erstaunt mich, zumal Du immer wieder auf Deine
studentischen Erkenntnisse zurückgreifst.
Schon etwas undifferenziert im Stile von p.
Gute N8
Bernd Mi
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Und kiwii: Die Führerscheinprüfung des Politikers ist in einer Demokratie ganz einfach: die Wahl - und nichts anderes. (Oder kann man irgendwo auf der Welt das Fach "Bundeskanzler" studieren?) Wenn du also klügere Politiker willst, musst du für ein klügeres Volk sorgen.
Gruß BarCode
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Ich pflege Deinen Stil zu imitieren.
Du bist zwar intelligent und gebildet, aber auch
vielfach nur einseitig aus dem Winkel der Soziologie oder
Politologie, verbreitest aber alles mit dem Anspruch
auf Allgemeingültigkeit. Die Welt ist komplexer und
komplizierter. Da löck ich gerne einmal wider
den Stachel. ;-)
Mit Kritik kannst Du schlecht umgehen, Ulrich.
Aber ich bin gerne einmal arrogant.
Ciao
Bernd Mi
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(Und bei berüchtigten Vorgängern). Q.e.d.
[Keine einzige meiner oben aufgezählten Tätigkeiten würde ein Herr Fischer ausüben dürfen - schlichtweg mangels Qualifizierung dafür.]
Das deutsche Volk ist prinzipiell ein kluges Volk - so klug (oder so dumm) wie jedes andere im alten oder neuen Europa auch.
Es hat nur eine Schwäche: Es kann Qualität von Scharlatanerie nicht unterscheiden. Nicht umsonst ist die Geschichte des "Rattenfängers von Hameln" eine so typisch deutsche Geschichte.
Und so bleibe ich bei meiner schon früher geäusserten Auffassung, wonach das politische Personal in anderen Ländern wesentlich besser ist, und wonach das unsrige sich kontinuierlich verschlechtert hat - und weiter verschlechtert (was im übrigen auch kein Wunder ist bei 17 Länder- bzw. Bundesparlamenten und -regierungen, die alle 4 bis 5 jahre neu "besetzt" werden müssen; von den übrigen "Parlamenten auf Kreis- bzw. kommunaler Ebene völlig abgesehen).
Frage: Gibt es in der französischen oder englischen Regierung ein Mitglied, das keine abgeschlossene Berufsausbildung hat ? Jedenfalls nicht die Aussenminister.
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Untersuchung.
Tenor: Es läuft bei anderen Nationen besser, weil
die Politiker qualifizierter sind.
Vielleicht finde ich den Aufsatz noch.
Die jetzige Regierung ist in dieser Hinsicht
schwach beleuchtet, vor allem der Steinewerfer.
Viele Grüße
Bernd Mi
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modeste | 13.11.04 14:27 |
Fischer nichts aufzuweisen hat, mögen ihn die Leute...weil die meisten eben auch nix Bsonderes aufzuweisen haben. So etwas macht Politker "irgendwie menschlich" *g*. Und damit eben "volksnah" *g* . Wenn hingegn jemand was aufzuweisen hat, werden die anderen hierzulande sofort neidisch - ist halt so. Salut modeste |
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Da ist die zunächst einmal die Stammtischseite, die sagt, unsere Poliiker wären alle unfähige Dummschwätzer. Ein großer Teil der Politiker belegt diese These tagtäglich ein ums andere Mal. Kein Wunder, da entweder Lehrer oder Beamte oder Juristen. Irgendwie alles Berufsstände, mit denen schon jeder irgendwann einmal unangenehme Erfahrungen gemacht hat. Und wenn die sich dann noch erdreisten, eine Politik zu machen, die man selbst für nicht gut befindet, dann ist die Schublade endgültig zu.
Die rationale Seite in mir sagt aber, dass ich von all diesen Berufsständen schon genügend positive Gegenbeispiele getroffen habe (gut, bei den Beamten vielleicht weniger). Daher muß der desaströse Eindruck also nicht zwingend kommen. Zur Sicherheit nochmal die Gegenprobe gemacht: Was, wenn unsere Politiker alles nur Wirtschaftswissenschaftler, Ingenieure und Mediziner wären. Kurz überlegt und festgestellt, dass in all diesen Kategorien das Verhältnis von schwachen und hellen Köpfen nicht viel anders ist als in den oben Erwähnten.
Nein, auch wenn's mir manchmal schwerfällt, ich glaube auch nicht, dass es wirklich besser wäre, wenn bestimmte oder andere Berufsstände die politische Szene bestimmen würden. Abstrakt betrachtet, muß ein Politiker m.E. nur eine schnelle Auffassungsgabe, analytisches Denkvermögen und stark ausgeprägte Kommunikationsfähigkeiten sowie einen Schuß Führungskompetenz haben. Das benötigte Fachwissen sollte er sich aneignen können, das Detaillierte liegt in Beraterstäben und Expertengremien.
Das heißt, der Wähler sollte weniger auf irgendwelche populistischen Floskeln sondern mehr auf die angesprochenen Fähigkeiten achten, wenn er eine Partei oder einen Abgeordneten wählt. Der Rest ergibt sich von alleine. Also, vielleicht liegt es doch einfach nur am dummen Wähler, der ständig die falschen dahin wählt.
Im dritten Ansatz spreche ich den Wähler allerdings wieder frei, teilweise zumindest, und komme auf das mangelhafte Angebot, das ihm zur Verfügung steht. Die fähigen Leute, die wirklich Großes in ihrem Beruf geleistet oder eine elitäre Ausbildung genossen haben, denken doch nicht im Traum daran, in die Politik zu gehen. Die enden als Partner einer Unternehmensberatung, im Vorstand von Daimler, als Geschäftsführer im eigenen Unternehmen oder in einer internationalen Kanzlei. Wieso sollen die sich vor dem verständnislos jammernden Volk verbiegen, den Clown auf irgendwelchen schwachsinnigen Veranstaltungen mimen und sich die Tomatenreste vom Kopf wischen? Und das alles für ein Fünftel oder max. ein Drittel des Gehalts?
Also was bleibt: Ein paar Idealisten und massig Leute, die es an die Schaltstellen der Wirtschaft nicht schaffen würden und zusätzlich weder mit ihrem Beruf noch mit ihrem Gehalt zufrieden sind, aber dafür genügend Zeit haben, sich vehement politisch zu engagieren. Einem wirklichen Wettbewerb der Kompetenzen müssen sie sich ja nicht aussetzen, die Konkurrenz kocht mit demselben Wasser, die Topofthepops spielen sowieso in einer anderen Liga.
Ich würde mal sagen, dass es in den meisten anderen Ländern nicht viel anders läuft. Zwei Ausnahmen kenne ich allerdings: Die USA und Frankreich. Beim einen ist es durchaus üblich, dass man nach einer Wirtschaftkarriere in die Politik geht, beim anderen gibt es den politischen Führerschein (ENA), den kiwi angesprochen hat. Ob das Endergebnis dort allerdings wesentlich besser ist, keine Ahnung.
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