«Die Reise ist nicht zu Ende», sagt EZB-Chefin Lagarde und kündigt für Juli eine weitere Zinserhöhung an
Am Donnerstag hat die Europäische Zentralbank (EZB) die Zinsen im Kampf gegen die hartnäckige Inflation erwartungsgemäss um weitere 0,25 Prozentpunkte erhöht. Den wichtigsten Grund für die anhaltend zähe Teuerung sieht die EZB in den deutlich steigenden Löhnen.
Die Zeitenwende in der Geldpolitik heisst Zinswende. Doch nach rund einem Jahr mit steigenden Zinsen kommt der Zinserhöhungszyklus dies- und jenseits des Atlantiks wohl langsam an sein Ende. Die US-Notenbank (Fed) hat an ihrer Sitzung am Mittwoch pausiert und die Leitzinsen in den USA vorerst konstant gehalten. Und auch in Europa nähert sich die Europäische Zentralbank (EZB) vorsichtig einem Zinsgipfel im laufenden Zyklus, der im Fachjargon als «terminal rate» bezeichnet wird. Zwei Gründe für eine langsamere Gangart
Im Gegensatz zum Fed hat der EZB-Rat am Donnerstag jedoch einen weiteren kleinen Zinsschritt von jeweils 25 Basispunkten für die drei Schlüsselzinssätze vorgenommen. Damit liegen die Leitzinsen im Euro-Raum gemessen am Einlagensatz von nun 3,5 Prozent so hoch wie zuletzt im Jahr 2001. Zu dieser Zeit notierte der Leitzins, der Hauptrefinanzierungssatz, in der Spitze jedoch bei 4,25 Prozent.
«Die Reise ist noch nicht beendet», sagte EZB-Präsidentin Christine Lagarde im Hinblick auf weitere Zinsschritte und fügte an: «Wir haben noch Boden gutzumachen.» Sie halte es für sehr wahrscheinlich, dass der EZB-Rat im Juli die Zinsen weiter erhöht. Hauptverantwortlich für die Persistenz der Inflation sei vor allem der Anstieg der Löhne. Laut Lagarde sind die verhandelten Löhne in der Euro-Zone im ersten Quartal um 5,2 Prozent gestiegen. Die EZB sehe aber bis jetzt keine Lohn-Preis-Spirale.
Die neuerliche Zinserhöhung spiegele die aktualisierte Beurteilung der Inflationsaussichten durch den EZB-Rat, die Dynamik der zugrunde liegenden Inflation sowie die Stärke der geldpolitischen Transmission wider, erläuterte Lagarde weiter. Seit Sommer 2022 hat die EZB die Zinsen um 4 Prozentpunkte erhöht, das Fed sogar um 5 Prozentpunkte. Rückläufige, aber weiter sehr hohe Inflation
An den Finanzmärkten wurde bereits vor dem EZB-Treffen mit einer weiteren Zinserhöhung um 25 Basispunkte im Juli gerechnet, bevor dann möglicherweise auch in Europa eine Pause ansteht. Aus Sicht der EZB, die jüngst ihr 25-jähriges Bestehen feierte, sind eine langsamere Gangart und eine mögliche Pause bei den Zinserhöhungen womöglich aus zweierlei Gründen vertretbar: Erstens hat die Notenbank in sehr kurzer Zeit die Zinsen stark angehoben. Diese müssen nun erst ihre volle Wirkung entfalten, was bis zu einem Jahr oder länger dauern kann.
Zweitens ist die Inflationsrate in der Euro-Zone deutlich rückläufig und dürfte auch in den kommenden Monaten weiter fallen. Dies gibt jenen Vertretern im EZB-Rat Rückenwind, die zu einer tendenziell lockeren Geldpolitik neigen. Lagarde betonte jedoch am Donnerstag erneut, dass die EZB weitere Zinsschritte von den eintreffenden Daten zur Inflations- und Wirtschaftsentwicklung abhängig mache.
Im Mai hatte sich die Teuerung im Euro-Raum von 7,0 auf 6,1 Prozent abgeschwächt. Damit liegt die Inflationsrate zwar immer noch dreimal so hoch wie von der EZB mit «mittelfristig 2 Prozent» angestrebt, doch im Oktober hatte die Teuerung gar den Spitzenwert von 10,6 Prozent erreicht. Die Gründe für den Rückgang dürften primär die fallenden Energiepreise und die restriktive Geldpolitik der Notenbank sein. Zugleich sinkt nun auch die bisher hartnäckig hohe Kerninflation, aus der die volatilen Preise für Energie, Lebensmittel, Alkohol und Tabak herausgerechnet werden. Sie ist im Mai von 5,6 auf 5,3 Prozent gefallen.
Die Experten der EZB gehen jedoch davon aus, dass die Eindämmung der Teuerung ein langer Kampf sein wird. Laut den neusten, leicht nach oben revidierten Prognosen für die nächsten zweieinhalb Jahre erwarten sie für diesen gesamten Zeitraum eine über dem Ziel der Notenbank notierende Gesamtinflation von 5,4 Prozent (im Jahr 2023), 3,0 Prozent (2024) und 2,2 Prozent (2025). Im Jahr 2025 soll gemäss den Projektionen selbst die Kerninflation noch immer bei 2,3 Prozent liegen.
Ein wichtiger Treiber der Teuerung dürften die steigenden Löhne in der Euro-Zone bleiben. Der EZB-Chefökonom Philip Lane rechnet mit einem durchschnittlichen Tariflohnanstieg in diesem Jahr von 5,25 Prozent und im Jahr 2024 von 4,5 Prozent. Die Entwicklung der Löhne und Gehälter übt einen grossen Einfluss auf die Gesamtteuerung aus und könnte schlimmstenfalls in eine gefürchtete Lohn-Preis-Spirale führen, in der sich Löhne und Preise gegenseitig befeuern. Hinzu kommen eine gewisse Deglobalisierung und die grüne Transformation der Wirtschaft, beides führt laut Ökonomen ebenfalls tendenziell zu steigenden Preisen.
Die Zähmung der Inflation ist jedoch nicht kostenlos, sondern geht mit einer – gewünschten – Verlangsamung der wirtschaftlichen Aktivität einher. Oftmals gelingt es Notenbanken dabei nicht, die Wirtschaft zu bremsen, ohne dass sie in eine Rezession rutscht. Mit Deutschland befindet sich bereits das grösste Mitgliedsland der Euro-Zone in einer technischen Rezession, da die Wirtschaftsleistung jüngst in zwei aufeinanderfolgenden Quartalen geschrumpft ist. In der Euro-Zone stagniert die Wirtschaft seit einigen Monaten bei einem anhaltend robusten Arbeitsmarkt. Die Arbeitslosigkeit liegt mit 6,5 Prozent weiterhin auf einem historisch tiefen Niveau.
Eine Rezession wäre insgesamt alles andere als ungewöhnlich. Laut der Commerzbank folgte in den vergangenen 50 Jahren in Deutschland auf jeden Zinserhöhungszyklus eine Rezession. In der Euro-Zone sieht es nicht viel anders aus. Auch in den USA sei es dem Fed nur selten gelungen, die nötigen Zinserhöhungen so auszutarieren, dass es zu einer «weichen Landung» der Wirtschaft ohne Rezession gekommen sei.
Quelle: https://www.nzz.ch/wirtschaft/ezb-zinsentscheid-juni-ld.1742462
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