Entsolidarisierung der Gesellschaft, Angriff auf Arbeitnehmerrechte, gezielte Verarmungspolitik... Oder: Der Bauplan der Agenda 2010? Michael Moore fragt die Deutschen aus seinem Buch Volle Deckung, Mr. Bush - Dude, where is my country? Piper, November 2003 Meine Frage an die Deutschen Welche Entschuldigung habt ihr? Warum habt ihr euren Regierungen im Lauf der Jahre gestattet, immer mehr von dem sozialen Netz wegzuschnippeln, das ihr uns vorausgehabt habt? Ihr Deutschen habt doch immer gesagt: “Wir sind füreinander verantwortlich.³ Deshalb gab es bei euch die Krankenversorgung, die Ausbildung und überhaupt alles, was Alle brauchen, umsonst. Aber jetzt wird das alles immer weniger. Es ist, als ob ihr euch in uns verwandelt, in ein Volk, das glaubt, dass die Reichen immer reicher werden müssten und alle anderen ihnen den Arsch küssen sollten. Ach, kommt schon, ihr Deutschen, ihr wisst es doch besser! Ihr seid belesen. Eure Medien berichten auch, was südlich der Alpen geschieht. Ihr macht Reisen. Ihr wisst Bildung zu schätzen. Und ihr habt im vergangenen Jahr die moralische Führung in der Frage Krieg oder Frieden übernommen. Ich bitte euch inständig, zeigt dieselbe moralische Urteilsfähigkeit, wenn es darum geht, das soziale Netz für jene Deutschen zu erhalten, die in eurem Land die Schwächsten sind. Beschreitet nicht den amerikanischen Weg, wenn es um die Wirtschaft, um Arbeitsplätze und um Dienstleistungen für Arme und Einwanderer geht. Es ist der falsche Weg. Viviane Forrester über OECD und Weltwährungsfonds als treibende Kräfte der Verarmungspolitik in Der Terror der Ökonomie Paul Zsolnay Verlag, 1996 Während die Nationen und ihre politischen Klassen sich über die Arbeitslosigkeit zu grämen scheinen, die sie Tag und Nacht beschäftigt, und ihr entschlossen entgegentreten, veröffentlicht die OECD in einem Bericht22 eine etwas differenzierte Meinung: »Um eine bestimmte Angleichung der Löhne und Gehälter zu erreichen, bedarf es einer höheren konjunkturbedingten Arbeitslosigkeit«, wird dort erklärt. Im selben jovialen Tonfall wird dort weiter ausgeführt (so wie in der Regenbogenpresse Rezepte beschrieben würden, wie man den Mann oder die Frau seines Lebens anlocken und bei sich behalten kann): »Die Bereitwilligkeit der Arbeiter, eine schlecht bezahlte Beschäftigung anzunehmen, hängt zum Teil von der relativen Großzügigkeit der Arbeitslosenunterstützung ab. Es besteht in allen Ländern Anlaß, die Dauer des Anrechts auf Unterstützung zu verkürzen, wenn sie zu lang ist, oder die Bedingungen für ihre Gewährung zu verschärfen.«23.......Der Weltwährungsfonds setzt noch einen drauf: »Die von den Auswirkungen der Politik auf die Verteilung der Einkommen hervorgerufenen Befürchtungen dürfen die europäischen Regierungen nicht davon abhalten, mutig eine grundlegende Reform des Arbeitsmarktes zu betreiben. Die Lockerung des Arbeitsmarktes erfolgt über die Umgestaltung der Arbeitslosenversicherung, des gesetzlichen Mindestlohnes und der Vorkehrungen zum Schutz der Arbeit.«24 22 Etude de l'OCDE sur l'emploi, Paris, Juni 1994. Zitiert bei Serge Halimi in »Sur les Chantiers de la demolition sociale«, Monde diplomatique, Juli 1994. 23 Weltbank, World Department report, workers in an integrating world, Oxford University Press, 1995. Zitiert bei Jacques Decornoy in »Pour qui chantent les lendemains«, Monde diplomatique, September 1995. 24 Bulletin des Weltwährungsfonds, 23. Mai 1994, zitiert nach Serge Halimi. Entsolidarisierung der Gesellschaft, Angriff auf Arbeitnehmerrechte, gezielte Verarmungspolitik... Oder: Der Bauplan der Agenda 2010? "Ihr sollt die verfluchten Tarife abbauen ... "Die freie Wirtschaft" Ihr sollt die verfluchten Tarife abbauen. Ihr sollt auf Euren Direktor vertrauen. Ihr sollt die Schlichtungsausschüsse verlassen. Ihr sollt alles Weitere dem Chef überlassen. Kein Betriebsrat quatsche uns mehr herein. Wir wollen freie Wirtschaftler sein! Wir diktieren die Preise und die Verträge - kein Schutzgesetz sei uns im Wege. Ihr braucht keine Heime für Eure Lungen, keine Renten und keine Versicherungen. Ihr solltet Euch allesamt was schämen, von dem armen Staat noch Geld zu nehmen! Ihr sollt nicht mehr zusammenstehen - Wollt Ihr wohl auseinandergehen! Ihr sagt: Die Wirtschaft müsse bestehen. Eine schöne Wirtschaft! Für wen? Für wen? Das laufende Band, das sich weiterschiebt, liefert Waren für Kunden, die es nicht gibt. Ihr habt durch Entlassung und Lohnabzug sacht Eure eigene Kundschaft kaputtgemacht. Denn Deutschland besteht - Millionäre sind selten - aus Arbeitern und aus Angestellten! Und Eure Bilanz zeigt mit einem Male einen Saldo mortale. Während Millionen stempeln gehen. Die wissen, für wen! Kurt Tucholsky 1930 --------------------------------------------------
Radikale Marionetten
Der brave US-Liberale Paul Krugman wettert gegen seinen Praesidenten und die AOLTimeWarnerGeneralElectricDisneyWestinghouseNewsCorp. Ruediger Loetzer
In dem eher fuer trockene wissenschaftliche Fachliteratur bekannten Campus-Verlag ist eine Streitschrift gegen die Bush-Regierung erschienen, die es an Schaerfe der Wortwahl und der Vorwuerfe mit Filmen Michael Moores wie "Fahrenheit 9/11" aufnehmen kann. Verfasser ist Paul Krugman, liberaler US-Professor der Wirtschaftswissenschaften und laut Klappentext ein Anwaerter auf den Nobelpreis fuer Wirtschaftswissenschaften. Unter dem Titel "Der grosse Ausverkauf" hat der Professor von der Princeton University seine Kolumnen zur US-Wirtschafts-, Sozial- und Haushaltspolitik, die in den letzten Jahren in der New York Times erschienen, zusammengestellt und um aktuelle Kommentare ergaenzt.
"Wir haben es im ach so demokratischen und aufgeklaerten Amerika mit einer der uebelsten ›Schurkenregierungen‹ dieser Erde zu tun", beginnt Krugman. Diese "bestreitet die Legitimitaet des bestehenden politischen Systems und will es rundweg abschaffen". Die "radikale Rechte" um Bush & Co. wolle aus den USA ein Land machen, "in dem es praktisch kein soziales Sicherungssystem gibt, das der Welt mit militaerischer Gewalt seinen Willen aufzwingt, in dem an den Schulen Religion statt Evolution gelehrt wird und in dem demokratische Wahlen allenfalls noch ein Deckmaentelchen sind". Die Politik der Republikaner sei ein Ergebnis der extremen sozialen Polarisierung, die in den letzten Jahren stattgefunden habe und die weiter verschaerft werden solle. In der Steuerpolitik verfolge die Regierung zum Beispiel "ein altes Ziel der radikalen Rechten, Ende aller Steuern auf Kapitaleinkuenfte, Besteuerung nur mehr der Loehne". Journalisten sollten begreifen, "dass hohe staatliche Wuerdentraeger bewusst luegen", fordert er und hofft auf eine "grosse Gegenbewegung", damit "diese fuerchterliche Periode in der amerikanischen Geschichte endlich vorbei ist".
Nach diesem rabiaten Auftakt – alle Zitate finden sich auf den ersten 35 Seiten – geht es weiter mit Einzelkritiken an der Bush-Politik. Leider laesst die Detailgenauigkeit dabei zu wuenschen uebrig – vielleicht, weil Krugman bei den Lesern der New York Times die Kenntnis der behandelten Themen voraussetzen konnte. Fuer Leser der deutschen Ausgabe gilt das nicht, und so haette man sich vom Verlag ein paar Erlaeuterungen zu den von Krugman behandelten Fragen gewuenscht.
So hat die Bush-Regierung die in naher Zukunft erwarteten Defizite in der US-Rentenversicherung nicht etwa zum Anlass genommen fuer die Anlegung von Reserven fuer "starke Rentenjahrgaenge", sondern zum Abbau dieser Sozialversicherung und zum Umsteuern auf Privatversicherungen. "Voodoo-Oekonomie" nennt Krugman solche Plaene, die Behauptungen der US-Regierung ueber die angebliche Verzinsung von privaten Lebensversicherungen seien "reines Wunschdenken", "durch keine oekonomische Theorie gedeckt". "Man stellt sich den amerikanischen Staat am besten als grosses Versicherungsunternehmen mit angegliederter Armee vor", so Krugman. Auch hierzulande waren Behauptungen von einer angeblich jahrelang hohen Verzinsung privater Lebensversicherungen noch vor kurzem verbreitet. Inzwischen, nach dem Sturz der Aktienkurse, ist der Katzenjammer gross und abzusehen, dass es nicht lange dauern wird, bis private Lebensversicherungen sich als das herausstellen, was sie schon immer waren: eine riskante Form der Altersvorsorge, riskanter als die gesetzliche Rente.
Auch die Steuerpolitik der Bush-Regierung – enorme Steuersenkungen fuer die Reichen, so dass der Haushaltsueberschuss der Regierung Clinton binnen weniger Jahre um 570 Milliarden Dollar pro Jahr verringert und in ein enormes Defizit verwandelt wurde – bekommt ihr Fett weg. Inzwischen sei der "Karren im Dreck". "Unerfreulich, diese Aktienmarktlage – welche militaerischen Optionen haben wir?" zitiert Krugman einen Cartoon der Zeitung New Yorker als Beispiel, wie die US-Administration ihre gesamte Politik mit angeblichen Notwendigkeiten des "Kampfes gegen den Terror" zu rechtfertigen sucht. Krugmans Alternative – "ein vernuenftiges staatliches Investitionsprogramm", "Erhoehung der Arbeitslosenhilfe" und "Finanzspritzen fuer die Bundesstaaten", erinnert stark an hiesige Gewerkschaftsforderungen. Nur die Summen sind amerikanisch – "100 Milliarden Dollar duerften es schon sein", meint Krugman.
Ansonsten erfahren Leserinnen und Leser viel ueber die Vetternwirtschaft des Bush-Clans und seiner Sponsoren aus der Grossindustrie, speziell der Energiebranche, ueber den Enron- und andere Skandale. So vermutete Krugman frueh, dass die Energiekrise in Kalifornien vor ein paar Jahren auf Manipulationen der Energiekonzerne zurueckging. Leute wie US-Vizepraesident Richard Cheney verbreiteten damals, Umweltschuetzer truegen die Schuld an der Krise. Inzwischen liegen die Dokumente der Manipulationen – Telefonate, Mails von Konzernen wie Enron & Co. an Werksleitungen, in denen diese zur Abschaltung ihrer Kraftwerke aufgefordert wurden, um eine Energieknappheit herbeizufuehren – bei US-Staatsanwaelten. "Noch nie in der Geschichte der Vereinigten Staaten war eine Regierung so unverkennbar eine Marionette der Wirtschaft", so Krugman.
Interessant, aber leider zu allgemein gehalten, ist auch die Polemik Krugmans gegen die Kontrolle der Medien durch die Rechte. "Im Grunde informiert uns AOLTimeWarnerGeneralElectricDisneyWestinghouseNewsCorp.", wettert er.
Ein polemisches, streitlustiges Buch, das zu lesen lohnt – auch wenn sein Verfasser ein im Grunde braver US-Liberaler ist.
* Paul Krugman: Der grosse Ausverkauf. Wie die Bush-Regierung Amerika ruiniert. Campus Verlag, Frankfurt/Main 2004, 272 Seiten, 21,90 Euro sollten euch parallelen zu deutschland auffallen, so sind diese rein zufällig und nicht beabsichtigt.
grüsse hjw
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