FAZ
Über Hartz hinaus Von Nico Fickinger
Mag sich der Kanzler auch mühen, die Ängste vor Hartz IV zu zerstreuen, und auf späte Einsicht in die Reformnotwendigkeiten hoffen: Vorerst nimmt der Protest gegen die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe eher noch zu.
Nicht nur der Widerstand gegen Leistungskürzungen treibt die Menschen auf die Straße; mehr noch ist es die Ahnung, daß der finanzielle Druck ins Leere laufen könnte:
Wo sollen die Stellen herkommen, die Erwerbslosen vermittelt werden können?
Müssen notfalls die Kommunen oder Arbeitsagenturen einen gewaltigen öffentlichen Beschäftigungssektor organisieren, um jene aufzufangen, die zur Arbeitsaufnahme gezwungen werden, aber zu regulären Bedingungen keine Anstellung finden?
Voller Unbehagen fragen viele: Welche Perspektiven bietet Hartz IV?
Diese Frage ist ebenso berechtigt wie die Befürchtung der Betroffenen, letztlich nur gefordert, aber nicht gefördert zu werden. Denn alles, was sich die Koalition ausgedacht hat, um die Wiedereingliederung der Erwerbslosen ins Berufsleben zu erleichtern - von der persönlichen Betreuung durch Fallmanager über unbürokratische Hilfen bis zu aufgestockten Hinzuverdienstmöglichkeiten und dem Zwang, jede zumutbare Stelle annehmen zu müssen -, wirkt nur, wenn diese Arbeitsgelegenheiten auch vorhanden sind. Fehlen sie, wird die längst überfällige Arbeitsmarktreform zu bloßem Sozialabbau.
Die Hoffnung von Bundeswirtschaftsminister Clement, es könnten bis zu 600 000 zusätzliche gemeinnützige Arbeitsgelegenheiten eingerichtet werden, ist in diesem Lichte zu bewerten: Fehlen solche Stellen, kann man weder den Arbeitswillen der Betroffenen testen noch Ausflüge in die Schwarzarbeit verhindern.
Doch zugleich wirft Clements Ankündigung Fragen auf: Weshalb sollen Erwerbslose, die sich als Gegenleistung für die Alimentierung durch die Solidargemeinschaft nützlich machen, noch Zuschläge erhalten? Will die Regierung die Aufnahme regulärer Beschäftigung fördern, muß sie die Zuverdienstmöglichkeiten ausweiten, statt künstliche Beschäftigung noch durch ein Zubrot zu versüßen.
Clements Ruf nach Hunderttausenden von Arbeitsgelegenheiten läßt zudem Schlimmes befürchten:
Werden Altenheime, Kindertagesstätten und Bildungseinrichtungen künftig mit Ein-Euro-Kräften überschwemmt und dadurch bestehende Jobs vernichtet? Diese Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen, denn Arbeit ist in den Kommunen ausreichend vorhanden, bloß sind die regulären Kräfte zu teuer und die öffentlichen Kassen leer. Billigkräfte - qualifizierte zumal - dürften vielerorts Begehrlichkeiten wecken.
Wer solche Verdrängungseffekte verhindern und den Erwerbslosen zudem echte Beschäftigungsperspektiven bieten will, muß daher über die Hartz-Reformen hinausdenken und an der Wurzel der Arbeitsmarktmisere in Deutschland ansetzen: an der beschäftigungsfeindlichen Regulierungsmacht der Gewerkschaften und am Ausgabengebaren von Bund, Ländern und Gemeinden.
Es ist schon zynisch, wenn sich ausgerechnet Gewerkschaftler an die Spitze der Demonstrationen setzen, die durch ihre Lohnpolitik vielfach die Erwerbslosigkeit mit verursacht haben. Nicht minder zynisch sind die Sympathiebekundungen von Politikern, die die öffentlichen Kassen für überteuerte Prestigeobjekte geplündert haben, statt das Geld in Bildung und Arbeit zu investieren.
Ein echtes Hinausdenken über Hartz tut not. Der Staat darf es bei kleineren Ausbesserungsarbeiten nicht bewenden lassen. Die erschütternde Bilanz der ersten drei Hartz-Gesetze zeigt, was passiert, wenn nur an Symptomen kuriert und das Übel nicht an der Wurzel gepackt wird: Alle Maßnahmen - vom Versuch, durch die Personal-Service-Agenturen Einstellungshürden und Lohnniveau zu drücken, bis zu den Eigenkapitalhilfen des "Job-Floaters" - haben sich als teure Flops erwiesen.
Besser wäre es gewesen, gleich den Kündigungsschutz zu lockern, niedrigere Einstiegstarife für Arbeitslose zu vereinbaren und die Steuerlast der Betriebe zu senken, statt künstlich für Erleichterung zu sorgen.
Jede Umgehungsstrategie führt nur in einen Teufelskreis aus teuren Reparaturmaßnahmen, steigenden Lohnzusatzkosten und noch mehr Arbeitslosigkeit.
Wenn den Hartz-Kritikern die ökonomischen Argumente ausgehen, weichen sie gern in Befindlichkeiten aus. So sieht Brandenburgs Ministerpräsident Platzeck die Proteste in einem "Grundgefühl der Zweitklassigkeit" der Ostdeutschen begründet. Gerade die Potsdamer Regierung, die viele Millionengräber geschaufelt und Investitionsruinen hinterlassen hat, sollte sich vor einer neuen Neiddebatte hüten. Schon bei der Wiedervereinigung hat das Verlangen nach finanzieller Gleichstellung und unreflektierter Übernahme der westdeutschen Arbeitsmarktinstitutionen und Sozialsysteme ganze Wirtschaftszweige vernichtet und die neuen Länder zu verlängerten Werkbänken des Westens gemacht.
Seither sind rund 900 Milliarden Euro nach Ostdeutschland geflossen, rund ein Drittel des ostdeutschen Sozialprodukts kommt durch West-Transfers zustande, doch auf dem Arbeitsmarkt hat sich nichts zum Besseren gewendet.
Die finanzielle Ruhigstellung der Menschen hat den nötigen Mentalitätswandel, der Voraussetzung jeder Beschäftigungsexpansion ist, eher behindert. Dazu gehört der Wille, für sich selbst zu sorgen, wann immer das möglich ist.
Neue Beschäftigungsperspektiven eröffnen sich nur, wenn die Dynamik auf dem Arbeitsmarkt wächst. Diese Dynamik dürfen die Menschen nicht fürchten; sie müssen lernen, die Chancen zu nutzen, die sich ihnen dadurch eröffnen. Der Kampf gegen die Erwerbslosigkeit bleibt eine Staatsaufgabe - aber nur insoweit, als es um den Abbau aller Beschäftigungshürden geht vom Arbeitsrecht bis zur Kopplung der Sozialabgaben an den Faktor Arbeit. Die Schaffung neuer Stellen dagegen ist Aufgabe der Wirtschaft; sie wird ihr dann nachkommen, wenn die Rahmenbedingungen es lohnend machen.
Die Chiffre Hartz markiert daher nicht das Ende der Zumutungen; sie steht für den Anfang aller ernsthaften Reformbemühungen.
Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.08.2004, Nr. 193 / Seite 1
Besser kann man es nicht auf den Punkt bringen !!
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