Was sind eigentlich "Fakten" - und welche Definitionsmacht haben sie?
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...Fakten [sind] nicht selbstevident, sie können prinzipiell immer bezweifelt oder im konkreten Einzelfall auch ganz bestritten werden, indem man einen oder beide ihrer Entstehungsfaktoren problematisiert: entweder ihre „Materialgrundlage“, also die beurteilten Umstände, Gegenstände oder Geschehnisse, oder das Urteil, das über sie zur Formierung eines Faktums von seinem Autor gefällt wird.
Ein Geschehnis, das der eine Journalist als Völkermord beschreibt, kann der andere als Befreiung eines Landes vom Terrorismus beurteilen. Des einen „Todeskommandos“ sind dann des anderen „Koalitionstruppen der Operation Nachhaltige Freiheit“. Diese unterschiedlichen Urteile machen aus demselben Geschehnis zwei unterschiedliche Fakten (Völkermord oder Befreiungsakt), die dann um die diskursive Vorherrschaft konkurrieren: Denn beide können in der weiteren Schilderung des Geschehens oder in der Argumentation für bestimmte Handlungsempfehlungen ihren Beitrag leisten (zum Beispiel indem sie „Todeskommandos“ oder „Koalitionstruppen“ identifizierbar machen).
In diesem Sinne sind alle Journalisten, die nicht bloß moralische Urteile aussprechen und ihren Beruf somit als Predigtamt ausüben, Faktenmacher: Sie wenden ihre Urteilskraft auf Umstände, Gegenstände und Geschehnisse an und erklären sie zu diesem oder jenem; darauf aufbauend sagen sie uns, was demnach der Fall ist, und möglicherweise auch noch, was wir deshalb tun sollten.
Journalisten und andere Autoren zeigen uns nicht einfach „die Welt“, sie entwerfen uns ein Bild dessen, was sie interessiert. Die realen Umstände, Gegenstände und Geschehnisse der Welt – Naturgesetze, Bäume, Kriege und so weiter – sind dabei nur eine Zutat; zum Faktum werden sie erst in Verbindung mit dem Urteil des Autors und, nicht zu vergessen, durch die bewusste oder passive Akzeptanz dieses Urteils durch eine Mehrheit der Gesellschaft.
Aus Begebenheiten durch Beurteilung Fakten zu machen, ist immer zugleich Beanspruchung und Ausübung von Definitionsmacht. Deswegen ist der Journalismus ein Schlachtfeld der Machtpolitik: Journalisten und die Medien, in denen sie arbeiten, definieren durch ihre Themensetzung, welche Umstände, Gegenstände und Geschehnisse uns zur Betrachtung vorgelegt werden – und indem sie diese beurteilen, sagen sie uns auch noch, was die Fakten sein, das heißt, was die Umstände, Gegenstände und Geschehnisse uns bedeuten sollen.
Hört die Zweifrontenkritik am Material- und Urteilsanteil vorgetragener Fakten in einer Gesellschaft auf, so sind ihre Mitglieder den Urhebern einer Version der Wirklichkeit hilflos ausgeliefert. Denn wer es schafft, nicht bloß wie andere auch gewissenhaft erarbeitete Fakten zur Diskussion zu stellen, sondern „die Fakten“ festzulegen und ihre Befragung einzuschränken oder auszuschließen, der ist damit in seinem Land zumindest Oligarch, vielleicht gar Autokrat: Er hat die Definitionsmacht über die Wirklichkeit inne, die in einer offenen Gesellschaft auf viele Akteure verteilt und in einer geschlossenen Gesellschaft auf wenige Akteure konzentriert ist....
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