«Bei modernen KKW ist die Gefahr einer für die Bevölkerung gefährlichen radioaktiven Freisetzung praktisch eliminiert»
Mit Tschernobyl und Fukushima hat die Welt innert knapp 40 Jahren gleich zwei nukleare Katastrophen erlebt. Können solche Ereignisse in Zukunft ausgeschlossen werden?
Als nuklearer Sicherheitsexperte untersucht man Ereignisse, die Auslöser für eine Verkettung von Systemausfällen sein könnten, die zu einem schweren Unfall führen. Ein Flugzeugabsturz zum Beispiel, ein starkes Erdbeben, ein Tsunami oder, wie in Fukushima, beides gleichzeitig. Für diese Ereignisse kann man sicherheitstechnische Vorkehrungen treffen und Notfallmassnahmen definieren. Die Wahrscheinlichkeit eines Störfallablaufs, der zu einer Beschädigung des Reaktorkerns führt, kann man quantifizieren. Dabei handelt es sich nicht um Kaffeesatzleserei, sondern um sehr umfangreiche sogenannten probabilistische Sicherheitsanalysen.
Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit für ein katastrophales Ereignis heute?
Die Wahrscheinlichkeit für eine frühe Freisetzung von Radioaktivität in modernen Anlagen ist geringer als 10-7 pro Jahr, das bedeutet also weniger als ein Ereignis in 10 Million Jahren. Bei den neuen kleinen modularen Reaktorkonzepten gelingt es sogar, diese Wahrscheinlichkeit auf 10-9/Jahr zu drücken, d.h. weniger als ein Ereignis in einer Milliarde Jahre! Damit haben moderne KKW einen Stand der Sicherheitstechnologie erreicht, bei dem man mit Fug und Recht sagen kann, dass die Gefahr einer für die Bevölkerung gefährlichen Freisetzung von Radioaktivität praktisch eliminiert ist.
Trotzdem hatten wir gleich zwei Ereignisse in den letzten 40 Jahren
Das ist richtig. Das waren aber auch Anlagen älterer Bauart, auf die diese Wahrscheinlichkeiten nicht zutrafen. In Chernobyl wurde zudem fahrlässig an den Sicherheitssystemen der Anlage manipuliert; dies ist bei unseren Anlagen per Design praktisch unmöglich und würde zudem nicht zum selben katastrophalen Ereignisablauf führen. Die Anlagen in Fukushima stammen aus den frühen 1970er Jahren, und hier wurde es in der Tat versäumt, relevante Sicherheitssysteme nachzurüsten, die in der Schweiz und ganz Europa bereits in den 1990er Jahren Standard waren. Wären diese Vorkehrungen rechtzeitig getroffen worden, wäre es in Fukushima nicht zur Kernschmelze gekommen. Tatsächlich haben die neueren Blöcke 5 und 6 in Fukushima den Tsunami auch praktisch unbeschadet überstanden.
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Aber Hand aufs Herz, wenn wir die externalisierten Kosten für Kernkraftwerke wie z.B. die Lagerung des Atommülls einrechnen, lohnt sich dann der Neubau von Kernkraftwerken noch?
Die Entsorgungskosten für die Schweiz werden alle fünf Jahre neu ermittelt und lassen sich mit etwa einem Rappen pro KWh Strom recht genau beziffern; diese Beträge werden schon während des laufenden Betriebs der Anlagen im sog. Stilllegungs- und Entsorgungsfond rückgestellt und sind damit im Gestehungspreis inbegriffen. Der liegt beim KKW Gösgen bei etwa 4 Rappen/kWh, was sehr günstig selbst im Vergleich mit der Wasserkraft ist.
Die Entsorgung der radioaktiven Abfälle ist mit dem Konzept des geologischen Tiefenlagers aus technisch-wissenschaftlicher Sicht de-facto gelöst. Es ist mir natürlich bewusst, dass die nukleare Entsorgung häufig zu einem vermeintlich unlösbaren Problem hochstilisiert wird. Demgegenüber stehen aber vier Jahrzehnte internationaler Forschung an Endlagerkonzepten, die immer wieder gezeigt hat, dass der sichere Einschluss radioaktiver Abfälle in tiefen geologischen Formationen über lange Zeiträume gelingt – diese wissenschaftlichen Ergebnisse kann man doch nicht einfach ignorieren! Finnland und Schweden haben mittlerweile genehmigte Endlager, und andere Länder, auch die Schweiz, werden folgen. Es gibt bei keiner anderen Energieform einen so sorgsam durchdachten Entsorgungspfad gibt wie bei der Kernenergie.
Wir werden diese Abfälle über mehr als 100'000 Jahre lagern müssen. Könnten sich in dieser Zeit nicht beispielsweise die Kontinentalplatten verschieben und ein Tiefenlager aufreissen?
Es ist wichtig, sich die geologischen Zeitskalen zu verdeutlichen, auf denen solche Prozesse ablaufen. Der Jura ist etwa 170 Millionen Jahre alt. Die Formationen, in denen wir das Tiefenlager errichten, haben sich seitdem nicht mehr gravierend verändert, das Porenwasser, das wir dort im Tongestein vorfinden, war nachweislich viele Millionen Jahre dort eingeschlossen. Wir führen den Langzeitsicherheitsnachweis für das geologische Tiefenlager über eine Million Jahre, um wirklich alle Eventualitäten, also auch tektonische und seismische Verschiebungen und Eiszeiten abzudecken. Das ist ein extrem konservativer Ansatz, denn tatsächlich sind nach 10'000 Jahren bereits über 99,7 Prozent der radioaktiven Elemente zerfallen. Bei den dann noch verbleibenden radioaktiven Stoffen reden wir von gerade noch 36 Tonnen Schwermetallen wie Plutonium und Americium aus insgesamt 60 Jahren Schweizer Kernenergiebetrieb! Gerade diese Schwermetalle werden aber besonders effektiv vom Tongestein im Endlager eingeschlossen. Es ist wichtig, sich klarzumachen, dass die Abfälle aus Kernkraftwerken zwar über lange Zeiträume radiotoxisch sind, dafür aber aufgrund der hohen Energiedichte in KKW auch nur in extrem geringen Mengen anfallen. Bei Abfällen aus der chemischen Industrie reden wir von ganz anderen Mengen, nämlich mehreren zehntausend von Tonnen – pro Jahr! - die ebenfalls geologisch tiefengelagert werden müssen.
Trotzdem fürchten sich die Menschen vor solchen geologischen Tiefenlager, wollen sie nicht in ihrem Hinterhof wissen.
Wir sind heute nicht mehr auf dem Stand der 1980er Jahre. Wie ich bereits sagte, in der Zwischenzeit wurde sehr viel geforscht. Wir verfügen heute über einen Kenntnisstand, den man sich vor 40 Jahren nur hätte erträumen können. Wir wissen, wie man ein Endlager optimal auslegt und wie die sicherheitstechnischen Barrieren aussehen müssen. Wir verstehen die Transportmechanismen von Radioisotopen im Gestein im Detail und können mit Sicherheit sagen, dass die Belastung von Mensch und Umwelt durch ein Tiefenlager jetzt und in hunderttausend Jahren um mindestens einen Faktor einhundert unterhalb der natürlichen Strahlenbelastung liegt.
In der Schweiz wird die Nagra der nuklearen Aufsichtsbehörde ENSI im kommenden Jahr das Rahmenbewilligungsgesuch für ein Endlager in Nördlich Lägern vorlegen, das dann von der ENSI nach dem aktuellsten Stand von Wissenschaft und Technik begutachtet wird. Ich schätze den mehrstufigen und transparenten Prozess der Standortsuche in der Schweiz sehr und bin zuversichtlich, dass wir um 2030 ein genehmigungsfähiges Konzept für die Schweiz haben werden.
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Andreas Pautz ist Professor für Nuklearingenieurwesen an der ETH Lausanne und leitet den Forschungsbereich Nukleare Energie und Sicherheit am Paul Scherrer Institut (PSI), dem zentralen nuklearen Kompetenzzentrum der Schweiz mit rund 250 Mitarbeitenden.
https://www.ekz.ch/de/blue/wissen/2023/...kw-energiewende-teil-2.html
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